Das Internat
klarer Flüssigkeit aus der gleichen Tasche, öffnete sie und füllte sie in den Gesichtswasser-Flakon. Nachdem sie das Gemisch geschüttelt hatte, verschloss sie das Fläschchen wieder und steckte es ein. Hoffentlich wechselte Miss Rowe das Wasser nicht jeden Morgen, bevor sie es benutzte.
Bis in Detail war Jane vertraut mit Miss Rowes Morgenwäsche, wie sie es nannte. Die Direktorin hatte ihnen Geschichten von ihrem Liebhaber erzählt, einem Mann, der sie einmal in der Woche morgens besuchte. Zu Miss Rowes Vorbereitungen gehörte eine Tasse Tee mit Honig und Fliederwasser. Sie hatte ein spezielles Gleitmittel benutzt, das nach Pfirsichen roch, seinem Lieblingsduft. Sogar das Gesichtswasser in ihrem Zerstäuber hatte sie parfümiert.
Breeze hatte bereits das Fliederwasser vergiftet, das sie für ihren Tee benutzte. Jetzt hatte Jane den Zerstäuber präpariert. Blieb für Mattie noch das Gleitmittel. Jane lächelte. Mattie hatte beim Münzenwerfen verloren.
Solange Miss Rowe am nächsten Morgen ihrer normalen Routine nachginge, würde sie genug Herzwein abbekommen, um einen ganzen Schwarm Vögel auszulöschen.
Nimm es auch als Rache für den Vogel,
dachte Jane. Und weil Miss Rowe sowieso täglich Herzwein benutzte, würde niemand wissen, dass sie aus Versehen eine Überdosis genommen hatte. Darauf zählten die Mädchen.
Miss Rowes Tricks würden ihr den Tod bringen.
Das war Matties brillante Idee gewesen.
Jane zog die Handschuhe aus, stopfte sie zurück in ihre Tasche und dachte währenddessen, dass sich nichts davon real anfühlte. Es kam ihr vor, als würden sie jemandem einen lustigen Streich spielen – ehrlich gesagt, erwartete sie auch nicht, dass die Direktorin mehr als Halsschmerzen von dem Herzwein bekommen würde. Jane glaubte nicht, dass sie Personen wie Miss Rowe umbringen konnten. Weil solche Leute nicht menschlich waren. Sie hatten böse Mächte und schwarze Magie auf ihrer Seite. Sie starben nicht wie andere – wie Ivy.
Niemand würde sterben. Nicht wirklich.
Sie hätten es nur gern so gehabt.
Der Raum wurde so hell, dass Jane ganz benommen war. Unter ihren Füßen schien der Boden zu schwanken, und sie berührte die Frisierkommode, um sich abzustützen. Wenn sie weiter darüber nachdachte, würde sie vielleicht ihre Meinung ändern und alles wieder rückgängig machen. Und das konnte sie nicht. Sie hatte geschworen, diese Sache mit durchzuziehen. Sie hatte ein Gelübde abgelegt.
Verschwinde hier, Jane. Geh die Wendeltreppe hinunter bis zur Eingangstür und hau ab.
Vielleicht lag es daran, dass sie die Stufen so langsam hinabstieg. Neben dem Schreibtisch entdeckte Jane ein Stück Papier auf dem Wohnzimmerboden. Sie erkannte das teure Papier an dem Wasserzeichen und an Miss Rowes Initialen am oberen Rand, elegant geprägt mit Gold und Schnörkeln an der Seite.
Jane hatte oft davon geträumt, eines Tages so ein Briefpapier zu besitzen. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie, eine Stipendiatin, jemals zu so etwas kommen sollte. Es war schon traurig. Wenn Miss Rowe nicht eine so schreckliche Person gewesen wäre, hätte sie eine von Janes Heldinnen sein können. Jane bewunderte weder ihre Gier noch ihre Grausamkeit, sie bewunderte Miss Rowes Stil.
In dem Brief richtete sich Miss Rowe an einen ungenannten Mann. Schon die erste Zeile verriet Jane die Wut der Direktorin. Mehr konnte sie nicht lesen, denn sie hörte die Stimme der Direktorin durch das offene Fenster. Miss Rowe war unten im Hof und unterhielt sich mit einem Mitglied der Fakultät. Jane hatte ihren Terminkalender überprüft und wusste, dass sie gleich eine Stunde Benimmunterricht geben würde. Trotzdem wollte Jane nicht riskieren, durch einen unvorhergesehenen Zufall entdeckt zu werden.
Jane hatte beabsichtigt, den Brief einfach liegen zu lassen. Doch dann bemerkte sie, dass sie die Handschuhe nicht mehr trug. Ihre Fingerabdrücke waren auf dem Papier. Es sah so aus, als hätte Miss Rowe den Brief ohnehin wegwerfen wollen, also zerriss Jane ihn schnell und warf ihn in den Papierkorb. Mattie würde den Korb leeren, wenn sie aufräumte, und das Beweisstück wäre verschwunden.
Jetzt war Mattie dran.
27. KAPITEL
M attie blickte den Turm hoch und verschränkte ihre nackten Arme. Deshalb war sie zurückgekehrt. Sie musste dort hinauf. Vielleicht hätte sie dem alten Geräteschuppen keinen Besuch abstatten sollen. Einige schlimme Erinnerungen waren geweckt, und sie konnte sich diese Art von Ablenkung jetzt nicht leisten. Sie
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