Das Internat
hatte zu viel zu erledigen.
Trotzdem gab es keine Möglichkeit, der Vergangenheit zu entgehen. Sie war überall.
Der Turm zeichnete sich gegen den stürmischen Himmel ab und sah noch genauso unheimlich aus wie vor dreiundzwanzig Jahren, als die Polizei ihn mit gelbem Band abgesperrt und Tatort eines Verbrechens genannt hatte. Mattie konnte sich erinnern, wie sie mit ihren Freundinnen von der anderen Seite des Hofes aus die Untersuchungen der Gerichtsmediziner beobachtet hatte. Sie waren wahrscheinlich sehr sorgfältig vorgegangen, nur wussten sie nicht, was sie suchten – oder wo sie es finden sollten. Mattie glaubte es zu wissen.
Einen Augenblick später war sie im Inneren des Turms. Ihre Schritte hallten wider wie die Glocke, die einst in dem Gebäude gehangen hatte. In ihren Designerpumps ging Mattie die Wendeltreppe hinauf und versuchte zu ignorieren, wie verlassen das Apartment ohne Miss Rowes schöne Einrichtung aussah. Dicke Spinnweben hatten die blauen Damastvorhänge ersetzt. Staubflocken saßen wie Moos auf Wänden und Decken, die Fenster waren blind vor Dreck.
Mattie hatte vor dem Ausflug ein wenig recherchiert und in Telefongesprächen mit der Verwaltung erfahren, dass der Turm nach Miss Rowes Tod geschlossen worden war. Danach hatte hier niemand mehr gewohnt, was die gruselige Atmosphäre erklärte. Vielleicht war es nur Matties Verfassung, aber es fühlte sich so an wie in dem Geräteschuppen – so als wären alle Ereignisse von damals in einer Vorhölle gefangen, in der sie warteten und immer noch widerhallten. Es wäre besser, ging es Mattie durch den Kopf, wenn die Räume mit den Möbeln einer neuen Direktorin eingerichtet wären, mit neuem Leben gefüllt. So war hier nichts, das die Schwingungen der Vergangenheit abfedern konnte.
Sie versuchte, nicht in irgendeinen der Räume zu sehen, während sie hinaufstieg: den Empfangsbereich im ersten Stock, den niemand benutzte, das wunderschöne Wohnzimmer in der zweiten Etage und das Schlafzimmer darüber mit den vielen Geheimnissen. Mattie kletterte direkt zum Dachboden hinauf und atmete schwer, als sie dort angekommen war.
Quietschend ging die Tür auf, nachdem Mattie den Knauf gedreht hatte. Unverschlossen. Genau wie die Eingangstür. Jeder hatte Zugang zu diesem Raum. Mattie ging direkt zur Abseite, zog das Gitter vom Lüftungsschacht und wedelte mit der Hand den Staub weg, der ihr ins Gesicht flog. Bah, wie sie enge Räume hasste.
Sie kniete sich hin, zog eine Taschenlampe aus ihrer Tasche und kroch hinein. Dafür musste sie sich flach auf den Bauch legen. Als William Broud sie damals aus der Wand gezogen hatte, hatte er gesagt, dass Miss Rowe hier Sachen versteckte. Warum nicht auch Videobänder?
Was Mattie fand war: noch viel mehr Staub, eine Horde Käfer und die losen Kabel, die sie bedroht hatten. Sonst nichts. Sie tastete alles ab und verzog das Gesicht bei dem Gedanken, auf was sie stoßen könnte. Schließlich rutschte sie Zentimeter für Zentimeter zurück, schob sich mit den Händen hinaus und landete mit dem Gesäß auf dem Boden, so wie das erste Mal. Staub, Spinnweben und Gespenster überall. Hier gab es nichts Schönes. Es war die gammlige Seele der Rowe-Akademie. Nachdem Mattie sich abgeklopft hatte, wollte sie den Raum verlassen. Die aufgestapelten Stühle, an die sie sich noch erinnerte, waren verschwunden. Stattdessen stand ein halbes Dutzend Schülerschreibtische herum und ein rostiger Aktenschrank, der ihr damals nicht aufgefallen war. Es war über zwanzig Jahre her, und man konnte mit Sicherheit sagen, dass sie nicht auf Details geachtet hatte.
Sie durchsuchte die Schreibtische, den Aktenschrank, alles, und kämpfte gegen Staub und Tränen. Es musste hier irgendwo sein. Sie war sich so sicher gewesen, doch vielleicht lag die Nadel in einem anderen Heuhaufen. Wenig später gab Mattie frustriert und schwitzend auf. Sie hatte sogar, wo es ging, die Fußbodendielen hochgezogen, und darunter nachgeschaut. Schließlich schwand ihre Hoffnung. Wenn auf dem Dachboden jemals ein Band versteckt gewesen war, dann war es jetzt nicht mehr hier.
Verzweiflung stieg in ihr auf, als sie feststellen musste, dass ihr Plan B nicht funktionierte. Den richtigen Heuhaufen zu suchen, war verrückt. Ganz sicher sinnlos. Sie brauchte einen vernünftigen Plan, eine Idee, wie sie in möglichst kurzer Zeit an möglichst viele Informationen käme … und so wie sie das sah, gab es nur eine Möglichkeit.
Jameson sah sie nicht, bis sie auf ihm lag. Den
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