Das Internat
Fischerdörfchen, das es in der Bay Area gab – und noch wichtiger für Mattie, es war eine Schulstadt.
Aus Gewohnheit inspizierte sie ihre Fingernägel. Jeder, der sie vor zwanzig Jahren dabei beobachtet hatte, hätte erkennen müssen, dass Mattie gar nicht so stark und tapfer war. Sie hatte die Nägel weit abgekaut. Angst war ihr ständiger Begleiter gewesen, und es hatte sie Nerven gekostet, alles unter Kontrolle zu halten. Jetzt war es wieder fast so schlimm wie damals. Mattie zitterte, ihre inneren Organe schienen zu beben, und das lag nicht am Auto oder an der Umgebung.
Es war das Unausweichliche.
Er wusste von Jane. Dann wusste er auch, was auf dem Spiel stand. Er könnte sie alle ruinieren, und das war ihm vollkommen klar.
Sein Bruder war auf dieselbe Weise ums Leben gekommen wie Miss Rowe. Das schien Cross' Verdacht über die einsamen Mädchen zu bestätigen. Konnte er denn nicht erkennen, dass jemand versuchte, ihnen etwas anzuhängen?
Mattie legte die Stirn aufs Lenkrad. Die Vergangenheit. Gott, die Vergangenheit holte sie ein wie eine Lawine. Auf einer Bergspitze gelöst, gewann sie immer mehr an Geschwindigkeit und Gewicht und würde sie alle unter sich begraben. Es gab keine Möglichkeit, sie aufzuhalten, nichts, was Mattie tun konnte. Sie war zur Rowe-Akademie gefahren, um dort das fehlende Video zu finden. Es war nicht dort gewesen, und stattdessen war sie ihm begegnet.
Eine Hupe ertönte hinter Mattie. Der Verkehr setzte sich wieder in Bewegung.
Sie legte den Gang ein, trat aufs Gaspedal und machte sich auf die Suche nach dem Highway 101, der sie nach Corte Madera führen würde. Wenigstens war die Gangschaltung da, wo sie hingehörte. Dass sie weder Jane noch Breeze anrufen würde, hatte Mattie bereits entschieden. Sie sollten die Neuigkeiten nicht am Telefon erfahren. Lange könnte sie sie Jane jedoch nicht vorenthalten.
An der nächsten Tankstelle hielt Mattie, um sich nach dem Weg zu erkundigen. Dem Angestellten zufolge war das Ziel nicht weit entfernt. Die Erleichterung, die Mattie überkam, fühlte sich wie ein gutes Omen an. Vielleicht würde doch nicht alles in einem kompletten Desaster enden.
Als sie zum Auto zurückkehrte, zog sie den Reißverschluss ihrer Tasche auf, um nach dem Mobiltelefon zu suchen. Sie musste Jaydee kurz anrufen, um sicherzustellen, dass er ihre Aktennotizen dem Richter gab, der ihre Fälle übernahm. Mattie hatte sich Jaydees Aufzeichnungen angesehen und einige Bemerkungen gemacht. Sie hoffte, dass dies die Last für ihren Kollegen erleichterte. Außerdem wollte sie einen Bericht über den Langston-Fall. Darüber hatte sie nichts gehört, seit sie das Gericht verlassen hatte. Nicht dass sie jetzt schon weltbewegende Neuigkeiten erwartete.
Der Verkehr floss jetzt wieder, also konnte sie den Blick nicht von der Straße wenden. Trotzdem fand Mattie das Handy sofort. Das, was sie nicht fand, machte ihr Sorgen. Sie tastete in der Tasche nach dem Gegenstand, der für sie zu einem Talisman geworden war. Auf eine bizarre Art und Weise symbolisierte er für Mattie gleichzeitig ihre Angst und den Kampf gegen dieses Gefühl. Nie reiste sie ohne ihn. Manchmal half ihr die bloße Berührung. Aber die Augenbinde war weg.
Die verwitterte Cape-Ann-Hütte war wahrscheinlich einmal sehr hübsch gewesen. Das zusammengestückelte Mansardendach verbarg sich nur teilweise hinter den Zweigen einer riesigen Eiche, und die dunkelgrünen Fensterläden brauchten einen Anstrich. Ein schönes Gebäude, aber es brauchte Pflege, und die Frau, die die Tür öffnete, schien fast in der gleichen Verfassung zu sein.
Matties Recherchen zufolge, war Nola Daniels Anfang fünfzig. Das ungeschnittene, schulterlange blonde Haar war fast grau geworden, und ihre verhärmten Gesichtszüge ließen sie zehn Jahre älter aussehen.
"Ist Chief Daniels da?", fragte Mattie sie.
"Mein Mann?" Ihr unsicheres Lächeln entblößte einen Eckzahn, der dunkel geworden war und den ansonsten hübschen Mund entstellte. "Nein, ich meine ja, aber es geht ihm nicht gut."
"Oh, ich hatte gehofft …" Mattie warf einen Blick über Nola Daniels' Schulter. Sie hatte jemanden im Haus sprechen gehört. Hinter dem Wohnzimmer sah sie einen kleinen Durchgang, in dem ein kräftiger Mann mit Halbglatze stand, der telefonierte: Chief Daniels, und er war deutlich größer als seine zierliche Frau.
Mattie fragte sich, ob sie ihn schon einmal gesehen hatte, entweder in Millicent Rowes Apartment oder auf der Polizeiwache, als sie und
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