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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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zurück. Einer der Painballer. Ich konnte seine Hand erkennen, er hatte die Scherbe einer Flasche in der Hand: rote und blaue Adern. »Mach die verdammte Tür auf, Arschloch«, sagte er. »Du Sau! Wir wollen alle was von ihr haben!«
    Mordis heulte. Was sie von ihm wollten, war den Code für die Tür. »Sag die Nummer, die Nummer«, brüllten sie.
    Ganz kurz noch sah ich Mordis. Dann hörte ich ein Gurgeln, und er war weg. An seiner Stelle stand ein Painballer − das Gesicht voller Narben.
    »Mach auf, und wir lassen deinen Kumpel am Leben«, sagte er. »Wir tun dir nichts.« Aber das war natürlich gelogen, weil Mordis schon tot war.
    Dann war noch mehr Geschrei zu hören, und dann müssen ihn die CorpSeCorps-Leute wohl geschockt haben, denn diesmal heulte er und verschwand vom Bildschirm, und dann gab es ein dumpfes Geräusch, wie wenn jemand gegen einen Sack tritt.
    Ich ging an die Schlangengruben-Kamera: Noch mehr CorpSeCorps-Männer in Kampfanzügen, ein ganzer Schwarm. Sie schoben und schleppten die Painballer aus der Tür − einen Toten und drei, die noch lebten. Sie würden wohl wieder in der Painball-Arena landen − wo man sie gar nicht erst hätte rauslassen dürfen.
    Dann ging mir auf, was passieren würde. Die Klebezone war eine Festung. Ohne den Türcode konnte niemand rein, und niemand außer Mordis kannte den Code. Das hatte er immer betont. Und er hatte ihn nicht verraten: Er hatte mir das Leben gerettet.
    Aber jetzt war ich eingesperrt, und es gab niemanden, der mich rauslassen konnte.
Oh bitte
, dachte ich.
Ich will nicht sterben.
     
    50.
     
    Keine Panik, sagte ich zu mir. SeksMart würde eine Putzkolonne schicken, und die würde sehen, dass ich da drin war, und jemanden holen, der das Schloss aufbrechen konnte. Sie würden mich da nicht drin verhungern und vertrocknen lassen wie eine Mumie: Wenn das Scales wieder aufmachte, brauchten sie mich ja noch. Ohne Mordis wäre es natürlich nicht mehr dasselbe − er fehlte mir jetzt schon −, aber wenigstens hatte ich eine Funktion. Ich war keine Einwegware, ich war ein Talent. Das hatte Mordis immer betont.
    Also ging es eigentlich nur darum, die Sache auszusitzen.
    Ich stellte mich unter die Dusche − ich fühlte mich schmutzig, als wären diese Painballer wirklich reingekommen oder als hätte ich am ganzen Körper Mordis’ Blut.
    Dann meditierte ich noch einmal, aber diesmal richtig. Tauch Mordis in Licht, betete ich.
Lass ihn ins Universum eingehen. Möge sein Geist Frieden finden.
Ich stellte mir vor, wie er in Form eines kleinen braunen knopfäugigen Vogels aus seinem ramponierten Körper flog.
    *
    Am nächsten Tag passierten zwei schlimme Dinge. Erstens schaltete ich die Nachrichten an. Die kleine Epidemie, von der vor kurzem noch die Rede gewesen war, war kein örtlich begrenzter Ausbruch, der eingedämmt werden konnte. Der Notstand war ausgerufen worden. Man sah eine Weltkarte, auf der die Gefahrenzonen rot aufleuchteten − Brasilien, Taiwan, Saudi-Arabien, Bombay, Paris, Berlin −, und es war, als würde die Welt vor den Augen der Zuschauer beschossen. Es war eine eruptive Seuche, hieß es, die sich rasend schnell verbreitete − nein, nicht mal das, sie brach gleichzeitig in weit voneinander entfernt liegenden Städten aus, was nicht normal war. Normalerweise hätten die Konzerne gelogen und die Geschichte vertuscht, und die annähernde Wahrheit wäre nur in Form von Gerüchten zu uns gedrungen. Dass das alles ungefiltert in den Nachrichten gesendet wurde, zeigte den Ernst der Lage − die Konzerne waren also nicht imstande, die Sache unter Verschluss zu halten.
    Die Newsjockeys versuchten, Ruhe zu bewahren. Die Experten wussten nichts über diesen Superbazillus, aber es war ganz sicher eine Pandemie, und jede Menge Leute starben sehr schnell − sie schmolzen einfach weg, sozusagen. Als sie dann in ihrem gruselig ruhigen Tonfall mit gekünsteltem Lächeln »kein Grund zur Panik« sagten, wusste ich, dass es was Ernstes war.
    Die zweite schlimme Sache war, dass ein paar Leute in Bioanzügen in die Schlangengrube kamen, die Toten in Leichensäcke stopften und mitnahmen. Aber trotz meiner lauten Schreie warfen sie nicht mal einen Blick in den zweiten Stock. Wahrscheinlich konnten sie mich nicht hören, weil die Klebezonenwände dick waren und in der Schlangengrube immer noch die Musik lief, wodurch meine Schreie wahrscheinlich übertönt wurden. Das war mein Glück, denn wenn ich in dem Moment die Klebezone verlassen hätte, hätte ich

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