Das Jahr der Flut
wurden zwar Informationen ausgetauscht, aber gerade so viel wie nötig. Pilars Tod war Jahre her. Dieser junge Kurier konnte so jung nicht mehr sein.
»Er ist dunkel?«, fragte sie. »Wie denn das?« Hatte er sich neu pigmentieren lassen? Unwahrscheinlich.
»Er war früher bei HelthWyzer, aber gerade ist er mit der Schule fertig geworden und studiert jetzt am Watson-Crick Institute, und wir haben ihn nicht mehr auf dem Schirm. Nicht dass wir einen hätten«, fügte er hinzu.
Toby wartete. Nachbohren hatte bei Zeb wenig Sinn. »Das bleibt aber unter uns«, sagte er nach einer Weile.
»Natürlich«, sagte Toby. Ich bin nur dein Ohr, dachte sie. Dein treuer Begleiter, dein Hündchen. Ein Brunnen des Schweigens. Und sonst gar nichts. Nachdem Lucerne vor vier Jahren das Nest verlassen hatte, hatte Toby sich eine Zeitlang gefragt, ob vielleicht einmal mehr daraus würde, aus ihr und Zeb. Doch diese Sehnsucht war nie in Erfüllung gegangen. Ich bin nicht sein Typ, dachte sie. Zu muskulös. Er steht nun mal auf weiches Fleisch.
»Die Versammlung weiß nichts davon, okay?«, sagte Zeb. »Wenn sie erfahren, dass er dunkel ist, werden sie nur nervös.«
»Schon wieder vergessen«, sagte Toby.
»Sein Vater war ein guter Bekannter von Pilar − sie war damals bei HelthWyzer in der Abteilung für Transgene Botanik. Ich kannte sie beide. Aber es ließ ihm keine Ruhe, als er dahinterkam, dass die Firma mit ihren hochfrisierten Zusatzpillen Krankheiten unter den Leuten verbreitete − erst als Gratisversuchskaninchen missbrauchen und dann bei der Behandlung genau dieser Krankheiten ordentlich abkassieren. Sehr gewieft, die Kosten hochzuschrauben für eine hausgemachte Sache. Das konnte er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. Er spielte uns ein paar interessante Daten zu. Dann hatte er einen Unfall.«
»Einen Unfall?«, fragte Toby.
»Mitten im Berufsverkehr von ’ner Überführung gestürzt. Blut und Gedärme satt.«
»Das ist aber sehr plastisch ausgedrückt«, sagte Toby. »Für einen Vegetarier.«
»Entschuldige«, sagte Zeb. »Selbstmord, hieß es.«
»Was es vermutlich nicht war«, sagte Toby.
»Wir nennen das Konzuizid. Wenn du bei ’nem Konzern bist und irgendwas machst, was dem Konzern gegen den Strich geht, bist du tot. So als hättest du dich selbst umgebracht.«
»Verstehe«, sagte Toby.
»Jedenfalls, zurück zu unserem Jungen. Die Mutter war Diagnostikerin bei HelthWyzer, er hat ihr Laborpasswort geknackt und konnte für uns allerhand Zeug durchs System schleusen. Genialer Hacker, der Junge. Die Mutter ist mit einem Top-Konzernler in der HelthWyzer-Zentrale verheiratet, und der Junge musste mitziehen.«
»Da, wo auch Lucerne ist«, sagte Toby.
»Hat sämtliche Firewalls durchtunnelt, sich ein paar Online-Identitäten ausgedacht, hat sich zurückgemeldet. Eine Zeitlang hat er von sich hören lassen, aber dann Funkstille.«
»Vielleicht hat er das Interesse verloren«, sagte Toby. »Oder er wurde erwischt.«
»Vielleicht«, sagte Zeb. »Aber er spielt Computerschach, er liebt die Herausforderung. Er ist flink. Und furchtlos.«
»Wie viele solcher Leute haben wir«, fragte Toby, »in den Komplexen?«
»Keinen solchen Hacker«, sagte Zeb. »Der Junge ist einmalig.«
45.
Sie erreichten die Wellness-Klinik und betraten den Essigraum. Toby schob sich hinter die drei großen Fässer, schloss den Flaschenschrank auf und rückte ihn zur Seite, um die innere Tür zu öffnen. Sie hörte, wie Zeb den Bauch einzog, um sich an den Fässern vorbeizuquetschen: Er war nicht dick, aber massig.
Der Raum war fast vollständig ausgefüllt durch einen Tisch aus alten Dielenbrettern und eine Reihe von bunt zusammengewürfelten Stühlen. An der Wand hing ein neues Bild in Wasserfarben − der heilige E. O. Wilson, Schutzpatron der Hymenoptera −, angefertigt von Nuala im Zuge einer ihrer allzu häufigen künstlerischen Anwandlungen. Der Heilige war mit der Sonne im Rücken dargestellt, die wie ein Heiligenschein wirkte. Er hatte ein ekstatisches Lächeln im Gesicht und einen Sammelbehälter in der Hand, in dem sich einige schwarze Punkte befanden. Das sollten wohl die Bienen sein, vermutete Toby, oder die Ameisen. Wie so oft auf Nualas Heiligenbildern waren die Arme der Figur unterschiedlich lang.
Es klopfte leise, und Adam Eins schlüpfte durch die Tür. Nach und nach folgte der Rest.
Hinter den Kulissen war Adam Eins ein anderer Mensch. Nicht vollkommen anders − nicht weniger aufrichtig −, aber
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