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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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seine Augen nicht. Mit einem Mal war ihr dieser Mann fremd.
    Wieso wunderst du dich? Das war doch klar, dass er auch andere Seiten hat. Kein Mensch ist nur charmant und liebevoll.
    Sie ging an ihm vorbei die Treppe hinunter. Der Hund, der vor der letzten Stufe lag, bewegte sich keinen Zentimeter zur Seite, sodass sie über ihn hinwegsteigen musste. Sein Blick lag unverwandt auf Jan, der immer noch regungslos auf der dritten Stufe stand.
    Sie wird mich verlassen. Panik stieg in Jan hoch. Ich wusste, dass es nicht funktionieren wird.
    Sein Magen rebellierte, ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Kopf.
    Ich hätte sie niemals hierherbringen dürfen. Ich habe zu viel von ihr erwartet. Sie kann das einfach nicht schaffen.
    Wenn sie jetzt ging, würde er für immer in seinen Erinnerungen versinken. Er würde die letzte Chance, die er gehabt hatte, nicht genutzt haben. Aber vielleicht war das ja richtig so. Vielleicht hatte er es nicht anders verdient. Es war falsch gewesen, ihr diese Bürde aufzuladen. Es gab keinen Menschen auf der Welt, der in der Lage sein würde, sein Leben wieder auf den geraden Weg zu bringen, von dem er vor vielen Jahren abgekommen war.
    »Ich mache uns einen Kaffee. Zeigst du mir, wo die Kannen sind?«
    Laura verschwand in der Küche. Sie verschwand nur in der Küche. Er würde ihr zeigen, wo die Kaffeekannen waren. Er würde ihr alles zeigen, was für ihr Leben hier wichtig war.
    »Warte, Laura, ich fürchte, wir haben keinen Kaffee.«
    Sie kam aus der Küche zurück und lächelte ihn an.
    »Okay, dann fahren wir und holen welchen. Und auf der Fahrt überlegen wir, was wir sonst noch alles brauchen.«
    Sie sah, wie sich die Anspannung auf seinem Gesicht löste.
    Ihr Herzschlag beruhigte sich.
    Ich weiß nicht, was gerade passiert ist. Irgendwas hab ich falsch gemacht. Und du hast mir einen Riesenschreck eingejagt. Aber glaub nicht, dass ich so schnell aufgebe.
    Hanno sah Jans Auto wegfahren. Er sah grau aus an diesem Morgen. Älter, als er eigentlich war. Der Mann im Spiegel vorhin war ihm nicht fremd gewesen. Er kannte diese fahle Haut. Die müden Augen. Die Falten, die sein Gesicht durchzogen und es an solchen Tagen noch tiefer zerschnitten als sonst. Er hatte die Schlaflosigkeit auch nicht mithilfe einer Tablette überwinden können. Zwar war er gegen Morgen schließlich doch eingeschlafen, doch schon zwei Stunden später war er wieder wach gewesen und hatte sich wie gerädert gefühlt. Dabei hatte er doch gehofft, dass er sich jetzt endlich würde entspannen können. Jans Rückkehr war ihm so glückhaft vorgekommen. Und dass Jan auch noch verheiratet war, hatte ihn in seiner Hoffnung bestärkt, dass nun alles wieder normal sei.
    Doch da war dieses Unbehagen in ihm, das seine Gedanken rotieren ließ. Plötzlich waren die Erinnerungen, die er fest verschlossen irgendwo in seinem Unterbewusstsein gewähnt hatte, mit Macht zutage geschossen und in seinem Kopf explodiert wie ein Vulkan. Wie glühende Lava hatte sich die Angst in ihm ausgebreitet, und er hatte nichts dagegen machen können. Plötzlich hatte dieses Zittern angefangen. Zunächst in den Beinen. Dann im ganzen Körper. Es hatte ihn durchgeschüttelt wie eine der alten Weiden am See, wenn der Wind an ihr zerrte. Was hatte er sich nur eingebildet? Hatte er wirklich gedacht, dass er diese Nacht vergessen könnte? Wie hatte er annehmen können, dass Jans neues Glück auch auf ihn abfärbte? Wenn es Jan durch diese neue Frau wirklich gelungen sein sollte, seinen Schmerz zu überwinden, bedeutete das noch lange nicht, dass auch er, Hanno, seine Ruhe wiederfinden würde. Auch wenn es ihm in den letzten Jahren gelungen war, das Geschehene zu vergessen oder, besser, zu verdrängen, bedeutete das nicht, dass er sich von seiner Schuld reinwaschen konnte. Auch wenn er nicht der Verursacher von Jans Unglück gewesen war– er hatte einen wesentlichen Anteil daran. Das war eine Tatsache. Er wusste, dass sich an Jans Qual nichts ändern würde, wenn er ihm seine Schuld gestand. Vielleicht würde es ihm, Hanno, eine gewisse Erleichterung verschaffen, wenn er endlich zu seiner Schuld stehen könnte. Aber Jan würde noch viel verzweifelter sein, als er es ohnehin schon war, wenn er erfuhr, dass Hanno, der Mann, dem er zeit seines Lebens bedingungslos vertraut hatte, ihn belogen hatte. Und dass er nichts dazu getan hatte, Jans Verzweiflung zu lindern. Wie hatte er sich nur vormachen können, dass Jans Rückkehr richtig sei? Weil er verzweifelt sehen

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