Das Jahr der Kraniche - Roman
sie ein wenig.
»Du bist schon wieder zurück?«
Sie spürte, wie die Hand des Unbekannten sie berührte. Die Hand war kalt, fühlte sich feucht an. Panik überwältigte Laura. Sie wollte weglaufen. Doch wohin? Der Unbekannte versperrte ihr den Weg ans Ufer. Und der Steg war nur zehn Meter lang. Sie musste ins Wasser springen, wenn sie entkommen wollte.
»Hab ich Sie erschreckt? Das tut mir leid.«
Die Stimme. Sie kannte sie. Natürlich, das war diese Elke.
»Elke.« Erleichtert stieß sie den Namen aus. »Tut mir leid, ich muss wohl eingeschlafen sein. Einen Moment lang hab ich tatsächlich nicht gewusst, wo ich bin.«
Elkes Lachen war hell und vergnügt. Es flog über den See, wo es sich in den Buchen verfing, die dort drüben mit den Wurzeln fast im See standen.
»Ich wollte fragen, ob ich irgendetwas für Sie tun kann. Wenn Sie Hilfe beim Kistenauspacken brauchen… Ich bin auch ein hervorragender Möbelschlepper. Und mit Hammer und Nägeln kann ich ebenfalls umgehen, für den Fall, dass irgendwelche Bilder aufzuhängen wären.«
Lauras Augen hatten sich wieder an das Licht angepasst. Sie erkannte, dass Elke eine übergroße, rote Strickjacke trug, in der ihre mädchenhafte, zarte Erscheinung fast versank.
»Lassen Sie sich von meinem Äußeren nicht täuschen. Ich sehe vielleicht nicht so aus, aber ich bin ganz schön kräftig.«
Laura musste lachen. Diese kleine Person sah tatsächlich nicht so aus, als wäre sie die geeignete Helferin für einen Umzug. Aber auf jeden Fall war es nett, dass sie vorbeigekommen war, um ihre Hilfe anzubieten.
Normalerweise hätte Laura so ein Angebot als reine Neugier interpretiert: Mal sehen, wie die neuen Nachbarn eingerichtet sind. Was sie für Bücher lesen, was für Musik sie hören. Ob ihr Mobiliar nach exquisitem Geschmack aussieht oder eher nach Billigmöbelmarkt. Aber Elke schien über so einen Verdacht erhaben. Vielleicht sind die Menschen, die in diesen Wäldern leben, einfach anders. Hilfsbereit, freundlich …
» Ich hab noch keine Ahnung, wo ich mit meinen Sachen hinwill. Ich muss mich erst mal orientieren. Also, noch gibt es nichts zu tun. Aber wenn Sie einen Kaffee mit mir trinken würden, würde ich mich sehr freuen. Ich kann Ihnen sogar Kuchen anbieten. Frisch vom Bäcker Helmer. In der…«
»…Kantstraße«, vollendete Elke den Satz. »Da haben Sie den besten schon gefunden.«
Sie gingen zusammen zum Haus. Laura ging einen Schritt voran. Als sie das Haus als Erste betrat, fühlte sie plötzlich wieder, dass alles richtig war. Sie war die Herrin des Jägerhauses, und in diesem Moment begrüßte sie den ersten Gast in ihrem Reich.
Elke vermied es, allzu neugierig auf Lauras Möbel und die aufgerissenen Kartons zu starren, in denen sie Lauras Habseligkeiten vermutete. Laura bemerkte ihre zögerlichen Blicke.
»Sie dürfen ruhig über meine Möbel lachen. Die Münchner Flohmärkte waren nicht sicher vor mir.«
»Sie sind sehr hübsch, diese bunten Möbel.«
Laura konnte sich nicht vorstellen, dass Jan sehr glücklich darüber war, dieses Sammelsurium von Scheußlichkeiten in seinem Haus aufstellen zu müssen.
»Jan findet sie grässlich.« Laura lachte laut auf. »Auch wenn er es nicht zugibt.«
»Jan würde niemals sagen, dass die Frau, die er liebt, irgendetwas Grässliches besitzt. Dafür ist er viel zu gut erzogen.«
Laura sah Elke prüfend an. Was war das für ein Unterton? Es klang, als wollte Elke ihr klarmachen, dass sie Jan besser kannte als sie.
Und wenn schon. Sie kennt ihn ja auch länger. Ist doch normal.
Sie würde ihre Duftmarke in diesem Haus schon setzen. Einige der dunklen Möbel würden rausfliegen. Die schweren Vorhänge mit den großflächigen Blumenmustern würde sie durch leichte, lichtdurchlässige Stores ersetzen, die ochsenblutfarbigen Wände im Wohnzimmer und im Musikzimmer hell streichen. Es würde gar nicht lange dauern, da würde das Haus wirklich ihr Haus sein.
»Ich hab mich immer ein wenig gegruselt, wenn ich Jan besuchte. Vor allem im Winter, da wirkte das Haus noch düsterer als sonst. Aber natürlich hab ich mir nie was anmerken lassen. Jan hätte ja denken können, dass ich eine Memme bin. Und wenn er irgendetwas nie leiden konnte, waren das Memmen.«
»Sie müssen mir alles über ihn erzählen.«
Laura ergriff die Flucht nach vorn. Sie dachte nicht daran, sich von jemandem einschüchtern zu lassen, nur weil er Jan schon als Jungen gekannt hatte. Obwohl– diese Elke war sicher mehr als zehn Jahre
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