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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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hatte sie ihn doch nur warnen wollen. Er war dabei, einen Fehler zu machen. Einen großen Fehler. Er aber hatte nichts hören wollen, hatte gesagt, sein Leben ginge sie nichts an. Hatte sich umgedreht und die Küche verlassen. Er hatte sie einfach stehen lassen. Und sie hatte nichts anderes zu tun gewusst, als mit einer wütenden Handbewegung die Gläser, die auf dem großen Küchentisch standen, zu Boden zu fegen. Als er wieder in der Tür stand und sah, was sie angerichtet hatte, war er ausgerastet. Noch nie hatte sie ihn so wütend gesehen.
    Sie hatte eine Entschuldigung gestammelt, ihn angefleht, ihr zu verzeihen. Sie würde die Gläser auch ersetzen, hatte sie geweint.
    »Du bist völlig verrückt geworden«, hatte er gebrüllt. »Ich erkenne dich nicht wieder.«
    Elke zitterte bei der Erinnerung daran, wie sie vor der verschlossenen Haustür des Jägerhauses gestanden hatte. Sie hatte an der Klinke gerüttelt, gegen die Tür gehämmert, ihm alles erklären wollen. Er müsse ihr nur zuhören, dann würde er alles verstehen. Aber er hatte nur gerufen, dass sie verschwinden solle. Und dann war Stille gewesen.
    Und jetzt hatte sie wieder ein Glas heruntergeworfen. Jetzt, da alles gut werden sollte. Sie wusste nicht, wie sie ihm das erklären sollte. Vermutlich würde er sich wie damals einfach von ihr abwenden und nicht hören wollen, was sie ihm zu sagen hätte. Sie musste auf sich aufpassen. Wer weiß, was sonst passieren würde. Aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Was damals passiert war, war vergangen. Sie würde verhindern, dass es wieder passierte. Auf gar keinen Fall würde sie zulassen, dass das Schicksal Jan noch einmal so einen Schlag versetzte.
    Als Hanno in die Küche kam, zuckte er zusammen. Elke saß im Dunkeln am Tisch. Regungslos. So hatte er sie schon einmal gesehen. Das Herz wurde ihm schwer.
    »Papa. Ich hab dich gar nicht kommen hören.«
    Elke sprang auf und umarmte Hanno herzlich.
    »Wieso sitzt du im Dunkeln? Ich hab gedacht, es ist keiner zu Hause.«
    Sie schenkte ihm, ohne zu fragen, ein Glas Wasser ein, wie sie es immer tat.
    »Ich muss auf dem Stuhl eingeschlafen sein. War ein harter Tag heute in der Schule.«
    Sie war so unbefangen und liebevoll wie immer, dass Hanno sich vorwarf, viel zu schwarz zu sehen. Es passierte ihm doch auch hin und wieder, dass er über einem Buch saß und nicht bemerkte, wie es um ihn herum immer dunkler wurde, bis er schließlich gar nichts mehr erkennen konnte und dann verwundert feststellte, dass es schon Nacht geworden war.
    Er trank das Wasser aus. Sie schenkte das Glas sofort noch einmal voll. Er wusste, sie fürchtete, dass er zu wenig trank, so wie es viele alte Leute taten. Im Alter lässt das Durstgefühl nach, hatte sie irgendwo gelesen, und dann ist man in null Komma nichts dehydriert. Folglich bestand sie darauf, dass ihr Vater, jedenfalls wenn er in ihrer Nähe war, immer genügend trank. Das nervte ihn einerseits– Wasser gehörte nun wahrlich nicht zu seinen Lieblingsgetränken–, andrerseits aber rührte ihn auch die Sorge seiner Tochter und beruhigte ihn gleichzeitig. Dass eine Tochter sich um ihren Vater sorgte, war das Normalste auf der Welt. Ja, sie war normal. Alles, was er jemals über sein Kind gedacht hatte, traf nicht zu. Sie führte das normale Leben einer ganz normalen jungen Frau.
    Eigentlich war er gekommen, um ihr seine Version seines morgendlichen Zusammenklappens zu erzählen. Er hoffte, dass er damit Marius zuvorkommen würde, der zwar an seine Schweigepflicht als Arzt gebunden war, aber seiner Frau bestimmt nicht verschweigen würde, dass ihr Vater heute sein Patient gewesen war. Wovor hatte er eigentlich Angst? Er beobachtete sie, wie sie die Kartoffeln fürs Abendessen wusch. Es schnürte ihm das Herz zusammen. Wie Blitze zuckten die Bilder durch sein Gehirn: das winzige Baby, das ihm die Krankenschwester in den Arm legte. Das Mädchen auf der Schaukel, das bei jedem Abwärtsschwung aufschrie, weil es sie so im Bauch kitzelte. Das tränenüberströmte Gesicht, als sie ihre tote Mutter entdeckte. Die wutblitzenden Augen, als sie Jan verwünschte. Der Blick, als er sie auf der Kranichinsel fand. Es war der Blick einer Toten.
    »Ich hab dich was gefragt, Papa. Bleibst du zum Essen?«
    »Entschuldige, ich war in Gedanken. Ja, ich bleibe gern zum Essen.«
    Er würde versuchen, Marius abzupassen und ihn dazu zu bringen, Elke nichts von den Ereignissen am Morgen zu erzählen. Er würde ihn an seine Schweigepflicht erinnern

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