Das Jahr der Kraniche - Roman
andere Seite, als wollte sie der leisen Stimme entgehen, die sich in die beschwingte Stimmung ihres Traums drängte. Sie wollte die warme Erde unter ihren nackten Füßen spüren, die Sonne, die ihre Haut glühen ließ. Sie wollte dem Zirpen der Grillen lauschen und dem geschwätzigen Gelärm der Spatzen in den prallgelben Ginsterbüschen. Es war ein schöner Traum, in dem sie sich wiedergefunden hatte, kaum dass sie in das breite Bett gesunken und eingenickt war. Und sie wollte einfach nicht daraus aufwachen.
»Hilfe.«
Sie konnte der Stimme nicht entkommen. Plötzlich kam sie von allen Seiten, von über ihr und neben ihr. Und dann war sie in ihr, brennend und dringlich. Sie wehrte sich noch einen Moment lang dagegen aufzuwachen. Doch alles Aufbäumen hatte keinen Erfolg. Das Zimmer war dunkel, als sie die Augen aufschlug. Sie fühlte ihr Herz heftig klopfen. Ihr Atem ging schnell.
Hör auf zu spinnen. Das war bloß ein Traum.
Sie legte die Hand unter ihr Herz, versuchte, ruhig gegen die Angst anzuatmen, die in ihr aufstieg. Alles war in Ordnung. Sie lag sicher in ihrem Bett, auf dem Kissen daneben hörte sie den Hund ruhig atmen. Sie schloss noch einmal die Augen, riss sie aber gleich wieder auf, als sie den warmen Atem an ihrer Wange spürte. Da war jemand im Zimmer. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Als sie die Berührung einer Hand spürte, schrie sie leise auf.
Licht, sie musste Licht machen. Verdammt, wieso fand sie die Nachttischlampe nicht? Sie tastete nach der Schnur mit dem Schalter. Wo war dieser verdammte Schalter? Als die Nachttischlampe zu Boden krachte, war sie mit einem Satz aus dem Bett. Der Hund fing an zu knurren.
»Wer ist da?«
Sie drängte sich an die Wand, rutschte an ihr entlang in die Richtung, in der sie die Tür vermutete. Wieso war es so stockfinster in dem Zimmer? In den letzten Nächten hatte doch der Mond hereingeleuchtet. Wieso gab es heute keinen Mond? Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Gab es hier etwas, womit sie sich verteidigen konnte? Ja, den Kleiderbügel, auf dem ihre Jacke an der Tür hing. Sie spürte die Wolle der Jacke, riss sie zu sich heran. Jetzt hatte sie den Bügel in der Hand.
»Wer sind Sie?«
Ihr Atem ging keuchend. Das Knurren des Hundes wurde lauter.
»Fass ihn, Shadow, fass.«
Jetzt fand sie den Lichtschalter. Das Zimmer war leer. Sie stand an die Wand gedrückt, den Kleiderbügel in der Hand, und ihr plötzliches Auflachen klang ein wenig irre in ihren Ohren. Da war niemand. Shadow hatte aufgehört zu knurren. Er kam zu ihr und rieb den Kopf an ihrem Bein. Sie ging neben ihm in die Knie, streichelte seinen dicken Kopf und ließ sich die Hand lecken. Jetzt gerade taten ihr die Liebesbeweise des Hundes gut, die sie sonst eigentlich nicht duldete.
Super Vorstellung! Gott sei Dank ist Jan nicht da. Der würde sich über mich totlachen.
Als sie sich ein Glas Wasser aus der Kristallkaraffe einschenken wollte, die auf der Kommode stand, merkte sie, dass ihre Hände zitterten. Hastig stellte sie die Karaffe wieder hin und sah auf ihre Hände. Sie nahm die linke Hand in die rechte und drückte fest zu. Alles gut, sagte sie sich. Es ist alles gut. Wie konnte sie nur durch einen harmlosen Traum so außer Fassung geraten? Das war wirklich peinlich.
Der Hund legte sich wieder auf sein Kissen, rollte sich zusammen und schloss die Augen. Was hatte sie gerade noch gekeucht? Fass ihn, Shadow, fass?
Als würde dieser harmlose Hund irgendjemanden jemals fassen. Sie stellte die Nachttischlampe zurück, legte aber jetzt die Schnur mit dem Schalter so hin, dass sie sie aus dem Bett gewiss erreichen konnte. Dann stieg sie über den Hund hinweg zurück ins Bett.
»Entschuldigung, dass ich mich so aufgeführt habe.«
Sie streichelte den Hund noch einmal, knuddelte seine weichen Ohren, was er geschehen ließ, ohne sich zu rühren, und legte sich zurück auf das Kissen.
Das Licht! Sie hatte vergessen, das Deckenlicht auszumachen. Also stand sie noch einmal auf, musste wieder über den Hund steigen. Sie löschte das Licht.
»Hilf mir doch!«
Der Schrei gellte durch das Haus. Der Hund fing an zu bellen. Das Licht anschalten, den Kleiderbügel greifen, zur Tür rausstürzen– das ging jetzt alles im Bruchteil einer Sekunde. Das war die Stimme einer Frau gewesen. Sie musste ihr helfen. Sie dachte nicht nach, als sie die Treppe hinunterstürzte.
»Wo sind Sie? Was ist passiert?«
Sie riss die Tür zum Musikzimmer auf, griff zum Lichtschalter. Niemand da. Im
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