Das Jahr der Kraniche - Roman
suchten. Shadow sprang neugierig durch den hohen Farn, als würden dessen lange gefiederte Zweige aufregende Geheimnisse verbergen.
Es war ziemlich heiß in diesem Monat. Seit drei Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Bei jedem Schritt staubte Sand um ihre Füße, die in leichten Sandalen steckten und schon nach ein paar Metern so schmutzig aussahen wie die Füße des kleinen Mädchens, das damals, als es mit seiner Mutter Ferien auf einem bayerischen Bauernhof gemacht hatte, von morgens bis abends barfuß herumgerannt war und sich abends immer geweigert hatte, sich waschen zu lassen, weil es ja am nächsten Morgen wieder schmutzig werden würde. Karin Nordmeyer hatte es viel Fantasie gekostet, ihre kleine Tochter dazu zu überreden, den Schmutz nicht in der Bettwäsche, sondern in einer blauen Plastikwanne abzustreifen, die sie vor eine Bank im Bauerngarten des Hofes gestellt hatte. Sie hatte Laura eine Schüssel mit Himbeeren in die Hand gegeben. Laura schmeckte den süß-fruchtigen Geschmack der Beeren noch heute auf ihrer Zunge, wenn sie sich an diese glückseligen Tage mit ihrer Mutter erinnerte. Nächstes Jahr würde sie selbst ein Kind haben. Vielleicht eine kleine Tochter. Sie würde sie auf eine Decke inmitten einer Gänseblümchenwiese legen, würde ihre kleinen dicken Füße das Wasser des Sees spüren und sie die Beeren aus dem Garten kosten lassen. Und abends würde sie sie in ihr Bett legen, sich zu ihr setzen, ihr Geschichten erzählen, bis ihr die Augen zufielen.
Und Jan? Was spielte er für eine Rolle in diesem Szenario?
Sie ging zur Seite, als sie ein Auto kommen hörte. Um es vorbeizulassen, blieb sie stehen. Marius stieg aus.
»Gut, dass ich dich treffe. Ich wollte gerade bei euch vorbeifahren.«
Er reichte ihr die Ausdrucke.
»Damit du dich schon mal einlesen kannst in das, was in den nächsten Monaten auf dich zukommt.«
Sie dankte ihm herzlich. Wie nett, dass er sich so um sie kümmerte.
»Und, was hat der werdende Vater zu der Neuigkeit gesagt?«
Marius ging davon aus, dass Jan außer sich vor Freude war, bemerkte dann aber, dass ihr Lächeln auf einmal wie weggewischt war.
»Du hast es ihm noch nicht gesagt? War er nicht zu Hause? Na, dann wird ihn ja heute Abend eine freudige Überraschung…«
»Ich… ich wollte mich noch ein bisschen allein freuen.«
Es klang in Lauras Ohren irgendwie unehrlich, was sie da sagte.
Und natürlich fragt er sich jetzt, was mit mir los ist.
Sie sah plötzlich so unsicher aus, so traurig. Das Strahlen von heute Morgen war verschwunden. Wie ein ratloses Kind ließ sie den Kopf hängen und starrte auf ihre schmutzigen Füße. Er konnte dem Impuls, sie in die Arme zu nehmen, nicht widerstehen.
»Was ist das denn? He! Wieso bist du denn plötzlich so… traurig?«
Er sah nicht, wie die Tränen in ihren Augen aufstiegen, aber er merkte, dass sie in seinen Armen bebte, als würde ein Schluchzen sie schütteln.
»Hallo… jetzt bist du doch ein wenig überrumpelt von der Neuigkeit?«
»Ich hab keine Ahnung, was mit mir los ist. Aber ich hab plötzlich so… so eine Angst… Was, wenn Jan gar kein Kind will? Was, wenn etwas passiert? Wenn es nicht gesund ist? Es ist plötzlich alles so schwer.«
Sie wischte sich über das Gesicht.
»Wenn ich jetzt sage, dass deine Hormone verrückt spielen, klingt das vielleicht wie ein Allgemeinplatz. Tatsache ist aber, dass das stimmt. In deinem Körper findet gerade eine Revolution statt. Da kann es schon mal vorkommen, dass du plötzlich nicht mehr aus noch ein weißt.«
Jetzt öffneten sich die Schleusen endgültig. Laura konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Marius hatte es hin und wieder erlebt, dass Frauen am Anfang ihrer Schwangerschaft emotional aus dem Tritt kamen, aber dass das auch Laura passieren würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er hielt sie eine Weile lang fest umarmt.
»Ich… versau dir dein ganzes Hemd…«, hörte er sie jetzt abgehackt schluchzen.
»Kein Problem. Dafür gibt ’ s Waschmaschinen. Heul dich ruhig aus.«
Mit einem neuen Aufschluchzen verbarg sie ihren Kopf wieder an seiner Brust.
Die Sonne schien auf sie. Shadow starrte sie ratlos an. Er wedelte unschlüssig mit dem Schwanz und legte den Kopf schief. Es gefiel ihm nicht, dass sein Frauchen weinte. Und genauso wenig gefiel es ihm, dass sie in den Armen eines Mannes lag, der nicht Jan Plathe war.
Elke wollte noch ein paar der gelben Ginsterzweige schneiden und sie zu den Sonnenblumen stecken, die sie zu einem
Weitere Kostenlose Bücher