Das kommt davon, wenn man verreist
Haben Sie mein Telegramm
nicht bekommen?«
Frau Taschner legte, sichtbar erschrocken, zwei
Daumen unter ihr Kinn und die Zeigefinger um ihre Nase. Und dabei warf sie
einen raschen, prüfenden Blick auf Riekes Bauch. Lächelte nervös. »Telegramm?
Haben Sie eins geschickt-? Ach!« lächelte sie leidend. »Unsere Post! Es tut mir
leid — bitte, kommen Sie herein, Fräulein —?«
»Birkow. Friederike Birkow.«
»Sie sagten, Sie kommen aus Berlin?«
»Ja. Haben Bob und Pepe nicht von mir erzählt?«
»O ja, natürlich —«, natürlich hatten sie nicht.
Ein Telefon schrillte irgendwo im Haus. Ein
Mädchen sprach mit Frau Taschner so rasch, wie ein MG in Notwehr knattert. Sie
legte schon wieder Finger um die Nase. Offensichtlich waren ihre Nerven in
keinem guten Zustand.
Rieke wurde mit hastigen Entschuldigungen dem
Hausmädchen Rosina übergeben und mußte ihr folgen, von Mißtrauen durchwuchert.
Hier blieb sie keinen Tag. Wo waren Bob und Pepe? Waren sie zur Zeit überhaupt
in Mexiko?
Wie können so teure Telegramme wie ihres
verlorengehen? War es vielleicht gar nicht verlorengegangen, sondern nur
verdrängt worden? Und wenn, von wem? Und warum?
Rosina durchschritt vor ihr eine weißgekalkte
Halle mit Stablaternen in Eisenringen, geschnitzten Bänken, nachgedunkelten
starren Familienporträts — oval und viereckig goldgerahmt. Dahinter befand sich
ein langer, schmaler Saal. Auch hier dieselbe Don-Carlos-Dekoration mit einem
massiven Eßtisch, ungefähr acht Meter lang, von steifen Stühlen umzäumt.
An seinem südlichen Kopfende hing ein dicklicher
Knabe im Pyjama zwischen aufgestützten Ellbogen und mampfte. Seine Haare waren
noch so, wie der Nachtschlaf sie frisiert hatte. Bei ihrem Eintritt sah er auf
und kaute nicht weiter.
»Pepe?«
» Rieke !«
Sein Stuhl fiel um und brach sich beinah das
steife, geschnitzte Kreuz.
Was für eine Umarmung! Pepe hielt sich an Rieke
fest, als ob er sie dringend nötig hätte.
Hatte er auch.
»Seit wann-? Warum hast du nicht telegrafiert?
Wir wollten dich abholen — mit ganz großem Bahnhof!«
»Ich habe ein Telegramm geschickt. Schon vor
fünf Tagen!«
»Ich bin so froh, daß du da bist!« Die Gefühle
klangen ab. Der Gastgeber setzte ein. »Bitte, nimm Platz. Möchtest du
frühstücken?« Er hob massive Silberdeckel von schwarzen Bohnen, pochierten
Eiern in Chilisoße und Fladen, die an zähe Pfannkuchen erinnerten.
Hatte er »Frühstücken« gesagt?
»Nein, danke, ich hab’ schon im Flieger«, lehnte
sie ab. »Aber Kaffee! Und Obst? — Rosina!«
Das Mädchen war nicht mehr da.
Pepe erhob eine silberne Tischglocke und
beutelte sie mehrmals ungeduldig. Sie klang so ähnlich wie die Bimmel des
Grunewalder Kartoffelhändlers, nur eben zierlicher und viel, viel silberner.
Nach einer Weile erschien ein anderes
Hausmädchen. Das hieß Maria.
Pepes Orders rollten auf scharfen Rrrrrs frontal
gegen ihre Brust. Sie hörte muffelnd zu.
»Eine blöde Ziege«, sagte er, als sie gegangen
war. »Seitdem sie weiß, daß sie in der Fabrik mehr verdienen kann als im Haushalt,
nimmt sie mich nicht mehr ernst.«
»Ich habe übrigens schon deine Mutter
kennengelernt«, erzählte Rieke.
»Ah, ja — was hat sie gesagt?«
»Sie hatte offenbar keine Ahnung von eurer
Einladung. Ich kam mir wie ein Eindringling vor.«
Das war Pepe unangenehm. »Weißt du, Mamita hat
zur Zeit viele Aufregungen — sie kann einem wirklich leid tun.«
»Sie hat mir auf den Bauch geschaut«, sagte
Rieke. »So? Hat sie? Das machen ihre Nerven. Du darfst ihr das nicht
übelnehmen.«
»Nein, nein, nur — warum hast du ihr von meinem
Kommen nichts erzählt?«
»Weil sie alles so aufregt. Sie wittert bei
jedem Mädchen eine Tragödie... Bob meinte auch, es wäre besser, wir erzählten
ihr erst von dir, wenn dein Telegramm kommen würde...«
»Das heißt, ihr habt mich eingeladen, ohne eure
Eltern zu fragen, ob es ihnen recht ist.«
»Ach, weißt du, Rieke, bei einem so großen Haus
und so vielen Gästen...«
»...spielt eine mehr keine Rolle«, vollendete
sie ärgerlich. »Ich ziehe morgen ins Hotel.«
»Gottes willen!« erschrak Pepe. »Mach bloß keinen
Terror. Du mußt hierbleiben. Das ist ja gerade der Witz! Deine Gegenwart
entspannt die Lage. Vor einer Fremden reißt sie sich wenigstens zusammen.«
Rieke dämmerte zum ersten Male, weshalb Pepe sie
so eilig nach Mexiko eingeladen hatte: erstens, weil er sie gern hatte und wiedersehen
wollte; aber zweitens und vor allem, weil er sie als
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