Das kommt davon, wenn man verreist
Sie möchte Ärztin werden.«
Er ging auf die Suche nach dem Umschlag mit
Malinches Fotos. Nachdem seine Mutter einmal einen Satz Bilder gefunden und
zerrissen hatte, versteckte er sie jeden Tag woanders, ohne sich jedoch zu
merken, wo. Deshalb mußte er jedesmal all seine Verstecke abtasten und
durchwühlen, wobei er einmal auf dem Stuhl und einmal auf dem Kopf stand.
»Seit wann weiß es Bob?«
»Seit München. Ich hab’s ihm kurz vor der
Heimreise erzählt.«
»Na und?«
»Er hat geflucht, weil wir uns nicht sofort an
ihn gewandt haben. Ehrlich gestanden, ich bin gar nicht auf die Idee gekommen.
Wo er doch nie da ist. Aber wenigstens hat er es jetzt den Eltern beigebracht.«
»Du hast dich wohl nicht getraut?« lächelte
Rieke. Einen Augenblick lang sah er sie sehr ernst an. »Wenn du wüßtest, was
ich mich alles getraut habe! Ich war bei so vielen Ärzten mit Malinche. Die
einen haben uns rausgeworfen, die anderen haben uns väterlich auf die Schulter
geklopft und weise Ratschläge gegeben. Wir sollten nur ja keine Dummheiten
machen, nicht zu einem Kurpfuscher gehen und nie vergessen, sähe die Welt im
Augenblick auch noch so düster aus — eines Tages würde sie doch wieder hell und
schön. Andere haben uns geraten, zu beten. Geduzt haben uns alle. Geholfen hat
keiner.«
Rieke stellte sich die beiden Kinder in den
Wartezimmern der Ärzte vor, jedesmal ein Gang nach Canossa, neue Angst, neue
Hoffnung, den Alptraum loszuwerden, die peinliche Beichte, die Untersuchung,
die feuchten Hände, die Knödel im Hals — die neue Enttäuschung. Malinches
verzweifeltes Weinen.
Schließlich war es zu spät.
»Die Eltern hätten uns auch nicht helfen können,
wenn wir es ihnen gesagt hätten. Da haben wir es lieber verschwiegen, solange
es ging. Nur der Tante von Malinche, bei der sie lebt — sie hat ja keine Mutter
mehr — , der mußten wir es sagen. Sie wollte sich vom Torre Latino-Americana
stürzen, weil sie doch die Verantwortung für Malinche hat. Wir haben es ihr
aber ausgeredet. Wenigstens hat sie einen Arzt dazu gekriegt, daß er Malinche
für die letzten zweieinhalb Monate wegen einer Gelbsucht krank schrieb. So hat
es keiner in unserer Schule erfahren.«
Pepe fand die Fotos in einer Schuhhülle in einem
Karton, in dem er seine ehemalige elektrische Rennbahn aufbewahrte.
Rieke war sehr gespannt. Was war das für ein
Mädchen, ein offenbar intelligentes, künstlerisch begabtes, das einmal Ärztin
werden wollte, das sich mit einem fünfzehnjährigen Klassenkameraden eingelassen
hatte?
Malinche sah mit ihren hochangesetzten
Wangenknochen, der kaum vorspringenden, leicht gebogenen Nase und den vollen,
geraden Lippen wie ein Indiomädchen aus. Ihr Lachen war bezaubernd natürlich.
Ein Kind in einem baumwollenen Kinderkleid, das
ein Kind hatte austragen müssen, hilflos getröstet von einem anderen Kind, das
gegen acht Uhr abends nach Hause ging, um dort in die Rolle des sorglosen
Muttersöhnchens zu schlüpfen. Und das über Monate!
»Ich möchte sie kennenlernen«, sagte Rieke und
gab die Fotos zurück.
»Sobald ihr Vater wieder fort ist«, sagte Pepe.
Auf einmal setzte die Müdigkeit ein. Seit
gestern früh um fünf hatte sie nicht mehr geschlafen und in der Nacht davor
auch nicht.
Pepe brachte sie zu ihrem Zimmer.
»Haben deine Eltern Malinche im Krankenhaus
besucht?« fragte sie.
Diese Frage verblüffte Pepe. »Nein, natürlich
nicht.«
»Haben sie überhaupt nicht auf die Geburt
reagiert?«
»Doch, natürlich! Mama jammert um meine
verpfuschte Zukunft, und Papa schimpft, weil er mich nicht schon vor einem Jahr
ins Internat geschickt hat.«
»Und Bob?« fragte sie noch.
»War nur einen Tag hier, er konnte Malinche
nicht besuchen. Aber er hat ihr Blumen geschickt und einen alten mexikanischen
Glückstaler. Er hat ihr auch einen Brief geschrieben. Er hat zwar aus Versehen
bloß das Konzept dazu in den Umschlag gesteckt, aber das war schon sehr nett.«
Als Friederike erwachte, war es finster um sie
bis auf ein paar helle Ritzen in den Jalousietüren zum Hof. Sie tastete
vergebens die Lampe an ihrem Bett nach einem Knipser ab, stand darum auf und
ging den hellen Ritzen nach, stieß die Türen auseinander und stand im
nächtlichen, von Stablaternen mit bleichen Lichtern und bizarren, lebendigen
Schatten überspielten Innenhof.
Stand einem korrekt gekleideten, etwa
sechzigjährigen Herrn gegenüber, der sich auf dem Weg zur Treppe befand.
Er ruckte leicht verwundert an seiner
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