Das Laecheln der Fortuna - Director s Cut
er krank?“
„Nein.“ Edward klopfte seinem jüngeren Bruder kurz die Schulter und wandte sich wieder an den Jungen. „Es ist ein Gelübde. Dein Vater beschuldigt Raymond, etwas ausgeplaudert zu haben. Und Raymond wird so lange mit niemandem mehr ein Wort reden, bis seine Ehre wiederhergestellt ist und wir wissen, wer das Geheimnis wirklich preisgegeben hat.“
Harry sah ungläubig von einem Bruder zum anderen. Er war nicht sicher, ob sie ihn auf den Arm nehmen wollten. Aber sie sahen beide zu ernst aus. Er setzte sich neben Raymond ins Gras.
„Warum sagst du Vater nicht, dass er Raymond Unrecht tut?“, fragte er Edward. „Auf dich hört er doch.“
Edward hob kurz die Schultern. „Raymond ist mein Bruder, darum sähe es nicht gut aus, wenn ich ihn in Schutz nähme.“
„Aber ich kann es tun. Und das werde ich auch. Vater kann nicht einfach …“
„Das wirst du schön bleiben lassen.“
Harry sah den großen Ritter verständnislos an. Der junge Earl of Burton war das Idol vor allem der jüngeren Knappen. Mit seinen langen, honigfarbenen Locken sah er beinah aus wie der heilige Georg selbst auf den Bildern, die man so oft sah. In den Turnieren des letzten Jahres hatte er sich als mutiger Kämpfer erwiesen, aber es war vor allem seine Vornehmheit, die Harry bewunderte. Edward betrank sich niemals oder machte einen Narren aus sich. Er brüllte auch niemanden an, die Wachen so wenig wie die Knappen und Pagen. Er war eigentümlich sanftmütig, doch ein jeder tat willig, was Edward ihm auftrug, ein jeder wollte ihm gefallen. Er hatte eine Gabe, Menschen dazu zu bringen, sich von ihrer besten Seite zu zeigen.
„Wie du willst, Edward. Ich werde nichts unternehmen. Aber wenn Raymond nicht mit mir sprechen kann, muss ich deswegen auf seine Gesellschaft verzichten?“
„Er hat im Moment keine Zeit, mit dir auszureiten, weil er hier arbeiten muss.“
„Und was ist abends? Raymond? Darf ich nicht abends zu dir kommen und ein Weilchen bei dir sitzen? Ich könnte Harfe für dich spielen, vielleicht heitert dich das auf.“
Raymond sah unsicher zu seinem Bruder.
Edward nickte. „Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Ich glaube kaum, dass dein Vater Einwände hat. Aber du darfst nicht versuchen, Raymond zum Sprechen zu bewegen. Es ist sehr schwer für ihn, dieses Gelübde zu halten, du darfst ihn nie in Versuchung bringen, es zu brechen.“
„Nein. Das werde ich nicht“, versprach Harry.
So machte er es sich also zur Gewohnheit, abends nach dem Essen zu der kleinen Wiese hinter der Waffenkammer zu gehen, um Raymond Gesellschaft zu leisten. Mortimer begleitete ihn oft, manchmal auch Edward, wenn seine Zeit es erlaubte. Leofrics Söhne hingegen mieden Raymond. Sie nahmen ihm seinen Schwur übel, denn sie fanden, es sei eine Sünde, die Gabe der Sprache freiwillig aufzugeben. Es bekümmerte Raymond, dass sie ihm die kalte Schulter zeigten, hatte er doch nie zuvor so viel über das Gebrechen ihres Vaters nachgedacht wie gerade jetzt. Leofric war, vor allem solange sie in Burton lebten, ein häufiger Gast auf der Burg seines Vaters gewesen. Er war eben einfach da, er gehörte zur Familie wie Isaac und Anne, und Raymond hatte ihn immer gern gehabt. Er war anders als andere Menschen, aber sie hatten nie Verständigungsschwierigkeiten gehabt. Selbst bevor Raymond lesen konnte, hatte er immer mühelos verstanden, was Leofric ihm mit seinen ausdruckvollen, oft komischen Pantomimen sagte. Erst jetzt kam es ihm in den Sinn, sich zu fragen, ob die Stummheit nicht oft eine schwere Bürde für Leofric gewesen war, und er bewunderte ihn für seine unverwüstliche Lebensfreude. Raymond selbst fand es schwierig, sich des Lebens noch zu erfreuen. Edward hatte vollkommen recht gehabt. Sein selbstauferlegtes Schweigen wurde Raymond eine harte Prüfung. Es kam ihm vor, als sei seine Seele in einen Käfig eingesperrt.
Den ganzen Sommer über blieben sie London fern. Meist waren sie in Leicester, dann für ein paar Wochen in Pontefract, wo der Duke of Lancaster und Lady Katherine residierten, wenn sie nicht gerade an der Grenze waren. Ganz gleich, wo Henry sich aufhielt, trainierte er jeden Tag mehrere Stunden seine Waffenkunst. Nicht, dass er Mowbray als Gegner fürchten musste. Aber er war einunddreißig Jahre alt, und er wollte Fortuna nicht herausfordern. Er legte keinen Wert darauf, am Lambertustag, dem siebzehnten September, in die Bahn zu gehen und dann plötzlich festzustellen, dass die natürliche Geschmeidigkeit
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