Das Land der Pelze
konnte sich Mrs. Paulina Barnett nicht mehr zurück halten. Ohne an die Gefahr zu denken, wenn sie sich dem fürchterlichen Raubthiere gegenüber befand, entwand sie sich Madge’s Händen und eilte nach dem Ufer.
Als der Bär sie gewahr wurde, hob er sich auf den Hintertatzen in die Höhe und kam geraden Weges auf sie zu. Zehn Schritte vor ihr blieb er stehen senkte den ungeheuren Kopf und kehrte um, als habe er unter dem Einflusse des Schreckens, der die ganze Thierwelt der Insel umzuwandeln schien, seine ganze natürliche Wildheit verloren. Mit grollendem Brummen trottete er nach dem Innern der Insel von dannen, ohne sich nur einmal umzusehen.
Sofort war Mrs. Paulina Barnett nach dem auf dem Schnee hingestreckten Körper geeilt.
Ein Schrei entrang sich ihrer Brust.
»Madge, Madge!« rief sie.
Madge kam herzu und betrachtete den leblosen Körper.
Es war der – Kalumah’s, des jungen Eskimomädchens!
Neuntes Capitel.
Kalumah’s Abenteuer.
Kalumah auf der schwimmenden Insel, zweihundert Meilen von dem Festlande Amerikas! Das war doch kaum möglich!
Doch zunächst, athmete denn die Unglückliche noch? Würde man sie zum Leben zurückrufen können? Mrs. Paulina Barnett hatte die Kleidung des Eskimomädchens aufgerissen und horchte nach dessen Herzschlage. Noch war er, wenn auch nur schwach, hörbar. Das Blut, das die Arme verloren, entstammte nur einer minder bedeutenden Handwunde. Madge verband die Stelle mit ihrem Taschentuche und stillte dadurch die Hämorrhagie.
Mittlerweile kniete Mrs. Paulina Barnett neben Kalumah nieder, unterstützte den Kopf der jungen Eingeborenen und träufelte durch ihre geöffneten Lippen einige Tropfen Branntwein; dann rieb sie ihre Stirn und Schläfe mit etwas kaltem Wasser.
So verflossen einige Minuten. Weder Mrs. Barnett noch Madge sprachen ein Wort. Beide lauschten in größter Angst, denn das wenige Leben, das in der Geretteten noch vorhanden war, konnte jeden Augenblick verlöschen.
Da rang sich ein schwacher Seufzer aus der Brust Kalumah’s, leise regte sich ihre Hand, und noch bevor sie die Augen öffnete und Diejenigen erkennen konnte, welche sie jetzt pflegten, lispelte sie die Worte:
»Madame Paulina! Madame Paulina!«
Die Reisende war nicht wenig erstaunt, ihren Namen unter diesen Umständen aussprechen zu hören. War denn Kalumah freiwillig auf die schwimmende Insel gekommen, und wußte sie, daß sie der Europäerin, deren Güte sie nicht vergessen hatte, begegnen würde?
Wie konnte sie aber von der Insel Victoria Kenntniß haben, und auf welche Weise diese, zweihundert Meilen von der Küste, erreichen? Wie hatte sie überhaupt vermuthen können, daß dieses Eisfeld Mrs. Paulina Barnett und alle ihre Genossen von Fort-Esperance barg? Alles das blieb völlig unerklärbar.
»Sie lebt und wird leben bleiben! rief Madge, die unter ihrer Hand die Wärme und die Bewegung in dem halberstarrten Körper wiederkehren fühlte.
– Das unglückliche Kind! sagte Mrs. Paulina Barnett mit bewegtem Herzen, und meinen Namen hatte sie noch auf den Lippen, als sie dem Tode so nahe war.«
Jetzt schlug Kalumah die Augen wieder auf; mit wirrem, unbestimmtem Blicke schaute sie umher. Plötzlich belebte sie sich und stützte sich auf die Reisende. Ein Augenblick, nur ein Augenblick, doch er war ihr hinreichend, Mrs. Paulina Barnett, ihre »gute Dame«, wieder zu erkennen, deren Namen nochmals ihren Lippen entschlüpfte, während ihre Hand, die sie ein wenig erhoben hatte, in die Mrs. Barnett’s zurücksank.
Eine Freundin vom Vorjahre. (S. 326.)
Die Pflege der beiden Frauen rief die junge Eskimodin indessen bald ganz in’s Leben zurück, die Arme, welche nicht nur von der Anstrengung, sondern auch durch Hunger bis auf das Aeußerste erschöpft war. Mrs. Paulina Barnett vernahm von ihr, daß sie seit achtundvierzig Stunden nichts genossen hatte. Einige Stück frisches Wild und ein Schluck Branntwein gaben ihr bald ihre Kräfte wieder, und eine Stunde später war Kalumah im Stande, mit ihren Freunden den Weg zum Fort einzuschlagen.
Doch in dieser Stunde, während der sie zwischen Mrs. Paulina Barnett und Madge auf dem Sande saß, fand Kalumah Zeit, ihren Dank auszusprechen, ihre Anhänglichkeit zu beweisen und ihre Geschichte zu erzählen. Die junge Eingeborene hatte die Europäerin von Fort-Esperance nicht vergessen, immer war ihr das Bild der Mrs. Barnett im Gedächtniß geblieben, und, wie man sogleich erfahren wird, es war kein Zufall, der sie halb todt an das
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