Das Leben dahinter (German Edition)
ebenfalls egal.
Er weckte sie nicht im herkömmlichen Sinne – er wollte schließlich nicht schon so kurz nach dem Aufwachen ihre ungezügelte Wut abbekommen – und so wälzte er sich so lange hin und her und hustete und räusperte sich hörbar, bis sie aufwachte und nicht einmal wusste, warum.
Sie blickte ihn an.
„Wie spät ist es?“, fragte sie mit Augen, die sich nicht ganz öffnen wollten.
„Halb neun“, antwortete er. „Wir haben wohl verpasst, den Wecker zu stellen.“
Sie rieb sich das Gesicht.
„Passt. Na dann mal los.“ Ihre Stimme klang nach einem üblichen Tag im Büro.
Ohne sich etwas überzuziehen ging sie ins Bad.
„Wir sollten das gelegentlich mal wiederholen“, sagte sie dabei.
Johannson nickte, schloss die Augen und wartete, bis sie fertig war, und nur wenig später stand sie wieder in voller Montur vor ihm. Er lächelte sie an, nur um zu testen, ob sie darauf reagieren würde, und sie tat es. Mit einem unverfänglichen, fröhlichen Grinsen, das ihm die Last der letzten Tage von der Brust hob. Das ihn beinahe alles um sich herum vergessen ließ. Alles war in Ordnung zwischen den Beiden, auch wenn kaum etwas gesagt war. Jedenfalls für den Augenblick…
Johannson hatte sich mit tlerweile ein eigenes Bild ihres Problems, ihres Knackses, ihres Sprunges in der Schüssel zusammengereimt, als er gestern Nacht mit offenen Augen in die Dunkelheit starrte und unbewusst der leisen Musik lauschte. Sie war seiner Meinung nach eine von den Personen, die sich vor sich selbst ängstigten. Die sich beim besten Willen nicht mit sich selbst beschäftigen konnten, weil sie sich nicht sonderlich leiden konnten, und die sich vielleicht sogar abstoßend fanden. Deshalb umgab sie sich meist mit Menschen und deren Problemen, mit Trubel und Geschäftigkeit. Alles, um nicht allein zu sein. Und selbst, wenn sie allein war, beschäftigte sie sich mit allerlei Kleinigkeiten oder kommunizierte über das Netz mit anderen. Sie tat einfach jeden erdenklichen Winkelzug, um ja nicht mit sich und ihren Gedanken über sich selbst in einem Raum sein zu müssen, was Bände über ein verschwindend geringes Selbstwertgefühl sprach. Das hatte er bereits in den letzten Tagen bemerkt, aber insbesondere in der letzten Nacht, denn nach ihrem Akt hatte sie nicht zufrieden und ruhig neben ihm gelegen. Nein, sie hatte unaufhörlich über die Besatzung geredet. Wer mit wem in welcher Weise in Beziehung stand oder wer welchen Posten warum bekommen hatte. Uninteressantes Zeug, auf das Johannson meist nur mit einem „Aha“ reagieren konnte. Sie hatte nur um des Redens willen geredet und sie hatte tatsächlich geredet, bis sie eingeschlafen war.
Seine Analyse ging aber noch weiter: Ihre Verdrängungsstrategie, die sich in dieser Ruhelosigkeit und Geschwätzigkeit geäußert hatte, hatte sich bei Stein seit Langem außerdem offenbar noch mit einem genetisch initiierten Ungleichgewicht ihres Testosteronhaushalts gepaart, der aus ihr den aufbrausenden, beinahe cholerischen Menschen machte, der sie war. Ihre Medulla oblongata arbeitete buchstäblich im Akkord, Parasympathikus und Sympathikus taten im permanenten Wechselspiel ihr Übriges, um sie wie eine Wahnsinnige erscheinen zu lassen, auch wenn sie eigentlich nur ein eingeschüchtertes, kleines Mädchen war mit Angst vor sich selbst – warum auch immer. Und ziemlich gaga durch ihre Anlagen… Nichts von der Person Stein passte irgendwie zu Johannson oder in sein Leben.
Solche Menschen hatten nach seiner Erfahrung die Angewohnheit, sich selbst im Inneren und die Personen in ihrer unmittelbaren Umgebung äußerlich zu geißeln und ihr verkümmertes Selbstempfinden auf die Welt um sie herum zu projizieren und jedermann den Hass spüren zu lassen, der tief in ihnen begraben lag. Meist besonders bei denjenigen, die ihnen nahe standen, und meist, ohne es zu bemerken. Daran hatte Johannson bei Stein nicht das geringste Interesse. Er war froh, dass es nur körperlich war.
Es erschreckte ihn, mit welcher Kaltschnäuzigkeit und Überheblichkeit er sie analysiert und in einer Schublade verstaut hatte. Doch es war geschehen und dadurch wusste er – ob es nun stimmte oder nicht, was er sich da zusammengereimt hatte – dass nicht nur sie ihm , sondern auch er ihr nicht sonderlich guttun würde auf die Dauer.
Aber noch war es ja nur körperlich.
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Johannson nahm in der hintersten Reihe der aufgestellten Stühle Platz. Nach und nach kamen besagte, ausgewählte Zivilisten hinzu
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