Das Leben, das uns bleibt (German Edition)
sein. Oder zumindest nicht mehr ganz so besessen von der Frage, wie lange der Fisch noch reichen wird.
Trotzdem sind wir das alle. Auch wenn keiner darüber redet – wäre ja auch unhöflich. Aber heute gab es statt Fisch mit einer viertel Dose Gemüse (außer für Lisa, die von allem doppelte Portionen bekommt) nur Fisch mit einem Hauch von Gemüse.
Schon erstaunlich. Früher mochte ich überhaupt keinen Rotkohl. Jetzt, wo ich nur noch einen Teelöffel davon kriege, kann ich an nichts anderes mehr denken. Wie lecker der ist. Wie köstlich. Wie sehr kein Fisch.
Und wie bald auch der restliche Fisch kein Fisch mehr sein wird.
Charlie isst von uns allen am wenigsten. Ich muss zugeben, dass ich ihn im Verdacht hatte, heimlich Fisch aus der Garage zu stehlen, bis er dann mal ein bisschen mehr von sich erzählt hat.
»Ich hab früher fast hundertsiebzig Kilo gewogen«, sagte er neulich bei einem viertel Löffelchen Rotkohl. »Am 23. Mai hatte ich einen Termin für eine gewichtsreduzierende Operation. Stattdessen hab ich eine Nulldiät angefangen, mit viel Bewegung, vor allem Laufen und Radfahren.« Er lachte. »So fit wie jetzt war ich noch nie.«
»Es hat eben alles seine guten Seiten«, sagte Syl und wir starrten sie an.
»Hat meine Oma immer gesagt«, fügte sie hinzu.
Darüber mussten wir lachen, dann kramten wir noch mehr Redensarten hervor, die früher eine Bedeutung hatten. Morgenstund hat Gold im Mund. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Am besten gefiel uns der Spruch ›Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht‹. Als Dad den brachte, dachte ich, wir hören überhaupt nicht mehr auf zu lachen.
Aber dann fing Gabriel an zu jaulen und Lisa stillte ihn zum siebenundachtzigsten Mal an diesem Tag. Das ließ uns alle verstummen.
»Ich hab nachgedacht«, sagte Dad. »Es war wunderbar, hier bei euch zu sein, und du kannst dir nicht vorstellen, Laura, wie dankbar wir dir dafür sind. Aber für zehn Personen ist dieses Haus einfach zu klein.«
»Das ist wohl jedem klar«, sagte Mom.
»Julie und ich bleiben nicht mehr lange«, sagte Alex. »Wir hätten längst aufbrechen sollen, aber Julie brauchte ein bisschen Ruhe.«
»Du doch auch«, sagte Julie. » Du bist letzte Woche zusammengeklappt, nicht ich.«
»Julie«, mahnte Alex.
»Wir waren alle am Ende unserer Kräfte«, sagte Charlie. »Laura, Sie haben … oder nein, ihr alle habt uns das Leben gerettet.«
»Alex und Julie wollen weiter«, sagte Dad. »Aber was mich angeht – ich habe endlich alle meine Kinder wieder. Einschließlich Syl, von der ich nicht mal etwas wusste. Ich habe nicht die Absicht, euch je wieder zu verlassen.«
Schon komisch, wie erleichtert ich war, als er das sagte. Ich hatte versucht, nicht daran zu denken, dass er wieder fortgehen könnte. Auch wenn ich jetzt wüsste, dass er, Lisa und Gabriel noch leben, wäre es schrecklich, sie nicht mehr in meiner Nähe zu haben.
»Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, ob ihr Lebensmittel bekommt«, sagte Matt. »Es hat schon einige Überzeugungsarbeit gekostet, bis sie Syl welche gegeben haben.«
Dad nickte. »Das ist auch meine größte Sorge. Wir dürfen euch nicht noch länger zur Last fallen. Aber keiner weiß, ob wir was bekommen werden.«
»Du bist unser Vater«, sagte ich. »Das muss doch wohl reichen.«
»Für mich vielleicht«, sagte Dad. »Aber wir sollten auch an Lisa denken und an Charlie. An Alex und Julie, solange wir sie noch zum Bleiben überreden können. Ich habe allerdings eine Idee, die vielleicht mehrere Probleme auf einmal lösen könnte.«
»Red weiter«, sagte Mom.
»Das Haus von Mrs Nesbitt steht leer«, sagte Dad. »Aber für den Fall, dass ihr Sohn zurückkäme, hätten er und seine Familie doch sicher Anspruch auf Lebensmittel, oder? Wie hieß er doch gleich?«
»Bobby«, sagte Mom. »Er hat in San Diego gelebt. Mrs Nesbitt hat nichts mehr von ihm gehört, seit … « Sie beendete den Satz nicht. Das tun wir nie. Manche Sätze muss man nicht beenden.
»Es weiß also niemand, ob er noch lebt«, sagte Dad. »Dann könnte ich doch Montag in die Stadt fahren und behaupten, dass ich Bob Nesbitt bin, dass ich mit meiner Familie zurückgekommen bin, um zu sehen, wie’s meiner Mutter geht, und dass ich jetzt in ihr Haus ziehen will. Was wir auf jeden Fall tun werden, dann sind wir hier nicht länger im Weg. Ich und meine Frau. Wie hieß sie doch gleich?«
»Sally«, sagte Mom.
»Ich und meine Frau Sally, unsere beiden Kinder Alex und Julie, der
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