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Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)

Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)

Titel: Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
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Arbeitszimmer kaum noch, und wenn er es tat, dann sprach er mit niemandem.
    John ließ die Faust sinken, mit der er gerade eben an die Tür des
    Arbeitszimmers geklopft hatte, und drehte sich zu Emma um, die mit sorgenvollem
    Gesicht einen Teller mit Essen bereithielt. „Er muss Klarheit gewinnen“, sagte
    er und versuchte, ihr seine Wut auf Paul nicht zu zeigen. „Er wird dabei
    verhungern!“ Sie sah schlecht aus, verbittert, abgemagert, und ihre Haut war
    grau und stumpf geworden. Sie tat ihm Leid, aber zugleich machte ihn ihre
    Leidensfähigkeit wütend. Emma gab John den Teller und trommelte in wütender
    Verzweiflung gegen die verschlossene Tür, doch von drinnen kam nur ein kaltes:
    „Lasst mich, ich bete.“ „Emma ...“ John wollte sie trösten. „So schnell
    verhungert man nicht. Er trinkt ja Wasser.“ „Gott will doch nicht, dass er
    stirbt“, flüsterte sie. „Oder?“ Wie gern hätte er sie jetzt umarmt, sie
    festgehalten, doch er sagte nur: „Gott wird es nicht zulassen, Emma.“
    Da ging sie einfach an
    ihm vorbei, als habe sie ihn gar nicht gehört. Er stellte den Teller in die
    Küche, nickte Amboora zu, die den Boden fegte, und ging ins Freie. Er sah Emma
    unter dem Vordach des Vorratshauses, wo zwei Frauen an Nähmaschinen arbeiteten.
    Seit Pauls Konfrontation mit Wirinun und dem Ältesten hatte er befürchtet, dass
    alle Eingeborenen ihre Arbeit verweigern und auch die Kinder nicht in den
    Unterricht kommen würden, mit dem er vor drei Tagen angefangen hatte. Doch er
    hatte sich getäuscht. Die Kinder kamen. Sie waren neugierig ...
    Drei Kinder liefen
    lachend über den Platz. „Geht schon in die Schule, ich komme!“, rief er ihnen
    zu und sah ihnen nach. Er seufzte. Als er so alt war wie sie, hatte er alles
    verloren ... aber sie, sie konnten doch nichts dafür ... Er atmete durch und
    straffte seinen Rücken. Seit Tagen drängte sich immer wieder ein Gedanke auf.
    Und immer wieder bat er Gott um Vergebung ... und darum, dass er ihn von diesem
    Gedanken erlöste. Doch Gott hörte ihn nicht. Und jetzt, mit jedem Tag, an dem
    Paul nichts aß, überfiel ihn der Gedanke immer öfter, nahm von ihm Besitz: Wenn
    Paul sterben würde, wäre Emma frei ... Er hob den Blick zum Himmel, aber die
    Worte, mit denen er Gott gerade noch um Vergebung bitten wollte, entschwanden
    ihm, und er dachte nur noch an die
    nächste einsame, qualvolle Nacht.
    Er hörte Stimmen aus dem Schulhaus rufen. Er warf einen Blick zu
    Emma, die jedoch mit den Näherinnen beschäftigt war und ihm den Rücken
    zugekehrt hatte. Er sah auf seine Schuhspitzen, die eingedrückt und abgestoßen
    waren. Es störte ihn nicht mehr. John ging über den staubigen Platz zum
    Schulhaus.

    2
    In den vergangenen zwei Tagen waren mehr als dreißig Schafe
    verendet. Von den geretteten Rindern waren gestern Abend drei unter
    schrecklichem Brüllen zusammengebrochen und kaum eine halbe Stunde später
    gestorben. Die Wasserlöcher vertrockneten, und das Thermometer zeigte heute um
    zwölf Uhr mittags achtundvierzig Grad im Schatten an. Zwei der vier Hühner
    waren verendet. Die Ziegen gaben kaum noch Milch. Emma ging in die Kirche und
    betete. „Jesus Christus, ich wollte mich nicht versündigen. Ich habe Wirinun
    als deinen Gesandten gesehen. Hilf uns, strafe uns nicht ...“

    Als Paul am fünften Tag auch noch das Wasser ablehnte, trat John
    auf Emmas Bitten hin die verschlossene Tür zum Arbeitszimmer ein. Ein
    säuerlicher, abgestandener Geruch schlug ihnen entgegen. Paul saß in seinem
    Feldbett, den Rücken an die Wand gelehnt, die Bibel vor sich, unverständliche
    Worte murmelnd. Emma erschrak. Er schien um Jahrzehnte gealtert. Sein Hals war
    faltig geworden; die sonst braunroten Sommersprossen lagen wie ein gelblicher
    Ausschlag auf seinem grauweißen, schweißbedeckten Gesicht; die Wangen waren
    hohl, und die dunkel umrandeten Augen flackerten unstet. Unablässig scheuchte
    seine gelblich wächserne Hand nicht vorhandene Fliegen von seinem Gesicht oder
    wischte unsichtbare Krümel von der Bettdecke. „Ihr stört mich. Geht!“,
    verlangte er mit seltsam schriller Stimme. „Ich spreche mit meinem Gott!“
    Sie suchte seinen Blick, in der Hoffnung, ihn aus der Welt
    zurückzuholen, in die er sich geflüchtet hatte. Doch er sah durch sie hindurch,
    irgendwohin, wo sie nie gewesen war. Selbst als John ihn an den nächsten
    Gottesdienst erinnerte, blieb er in seiner Welt. „Ja, ja!“ Paul lachte
    plötzlich kopfschüttelnd auf.

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