Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
ausgefüllt von ihm, und auf einmal spürte sie
wieder seine Ablehnung, seine Kälte, sie hörte die Beschimpfungen ... Da stand
sie auf und verließ das Zimmer.
Was sie am Abend dazu
veranlasste, ihren Koffer, den sie in der Abstellkammer hinter dem Schlafzimmer
aufbewahrte, hervorzuholen und ihn zu öffnen, um ein schmales Büchlein mit
einem dunkelroten Einband herauszuholen, das sie seit der Schiffsreise nicht
mehr angerührt hatte, hätte sie nicht sagen können. Vielleicht, weil es sie an
jene Nacht erinnerte, in der sie in ihrem Innern Ja zu Paul gesagt hatte.
Vielleicht auch, weil es sie daran erinnerte, dass es Wegkreuzungen im Leben
gab, an denen man sich entscheiden musste. Sie setzte sich hinaus auf die
Veranda. Wie ein Mahnmahl stand die weiße Kirche in der Nacht. Zum ersten Mal
dachte sie bei ihrem Anblick an bleiches, totes Gebein ... und überhaupt:
Ungewöhnlich leblos wirkte alles um sie herum. Kein Laut, kein Feuer drang von
den Hütten zu ihr herüber, als wären die Bewohner fortgezogen. Jetzt fiel ihr
ein, dass Amboora am Nachmittag weggegangen und seitdem nicht wiedergekommen
war. Nur sie und John waren hier. Aus dem Fenster seines Arbeitszimmers
sickerte ein fahles, einsames Licht in die Dunkelheit. Eine Weile war sie
unschlüssig, ob sie hinübergehen sollte. Ihr war, als warte er auf sie. Doch
irgendetwas hielt sie zurück. Sie wollte jetzt allein sein.
Sie zündete die
Kerosinlampe an. Der rote Leineneinband des Büchleins leuchtete hell. Sie
blätterte die erste Seite auf.
Für Emma.
Es spiegeln die verblassenden Sterne
das funkelnde Licht von Nächten,
in denen man glücklich war für einen
Moment.
Sie sah hinauf in den
Sternenhimmel. Ja, sie war mit ihm für Momente glücklich gewesen. Und er?
Vielleicht auch, aber er hatte es ihr nie gesagt. Wie die Sterne glitzerten! Jeder
Stern eine Verlockung, eine Verführung! Hatte sie die Zeichen übersehen? Hätte
sie damals, auf dem Schiff, in jener Nacht, in der sie Max Jacobs geküsst
hatte, erkennen müssen, dass sie und Paul doch nicht zusammengehörten?
Ein Falter flatterte
gegen den Glaszylinder der Lampe. Sie versuchte ihn zu verscheuchen, obwohl sie
wusste, dass es zwecklos war. Er würde ins Licht fliegen, so lange, bis seine
Flügel am heißen Glas verbrannten. Sie klappte das Büchlein zu. Warum konnten
wir nicht anders mieinander sein, Paul? Wir hätten so viel zusammen schaffen
können! Am Himmel leuchtete ein Stern auf und fiel dann brennend durch die
funkelnde Nacht. Es war zu spät, um sich etwas zu wünschen. Sie wischte ihre
Tränen weg und löschte das Licht. Der Falter lag tot neben der Lampe.
3
Die Grabsteine warfen
die langen Schatten des Morgens auf die rote Erde. Der Himmel war tiefblau und
ohne eine einzige Wolke und die Sonne brannte heiß. In der Ferne, am Hang der
Berge, drehte ein Raubvogel still seine Kreise. Auch die weißen Hunde waren
ruhig. Nur das leise Geräusch von im Wind aneinander reibenden Sandkristallen
war zu hören.
Emma stand am Rand der
Grube, die John gestern mit drei Helfern ausgehoben hatte, und betrachtete die
Linien und Farben der Erdwände. Sie gleichen den Jahresringen eines Baums,
dachte sie, und dann sah sie ihren Vater vor sich, dessen Körper in einem
Massengrab, irgendwo in den Weiten des Sowjetreichs, in die Jahresringe der
Erde einging ...
Ein Geräusch riss sie
aus ihren Gedanken. Sie sah über die Schulter zu den Eingeborenen, die sich
zwischen den hinteren Grabsteinen zusammendrängten. Alle wichen ihrem Blick
aus, auch Amboora und Isi. Wovor fürchteten sie sich? Oder war es Ehrfurcht?
Sie wandte sich zur Schmiede, von wo John im schwarzen Talar herankam, hinter
ihm vier Männer, die den Leichnam trugen, der wegen Holzmangel in weiße Tücher
gehüllt war. Emma trat zur Seite, und die Männer legten ihn mit Johns Hilfe
behutsam ins Grab. Mit gesenktem Blick eilten sie zu ihren Leuten und verschwanden
in den hinteren Reihen, als müssten sie sich verstecken.
John schlug die Bibel
auf, hob den Kopf und räusperte sich. Seine Wangen waren eingefallen, seine
Haut war gelblich, er war magerer geworden, doch sein Haar hatte er tadellos
gescheitelt, und auch der Kragen strahlte blütenweiß. Nun sind nur noch wir
beide übrig geblieben, dachte sie, und erinnerte sich an den langen Marsch
durch die Wüste, sie sah Paul vor sich, der von Anfang an die Führung
übernommen hatte, der furchtlos und unbeirrt voranschritt
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