Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
es verdient hättest.
Sie las den Brief ein
zweites Mal. Schließlich legte sie ihn nachdenklich auf den Tisch. Paul sah sie
von dem alten Familienfoto an, das sie an den Fuß der Kerosinlampe gelehnt
hatte. Sie war mit ihm zum Ende der Welt gereist und bereit gewesen, ihr ganzes
Leben dort mit ihm zu leben. Und dann hatte er sie im Stich gelassen. Sie nahm
das Foto in die Hand und betrachtete es wieder. Die Eltern, die Geschwister ...
Margarete. Sie wollte Gott erfahren, hatte Paul gesagt. „Paul“, sagte sie,
„warum hast du mir nicht vertraut “
Der dreizehnjährige
Junge sah sie mit ernster Klugheit an. Nein, auch jetzt sprach er nicht mit
ihr. Sie wollte das Foto wieder an den Lampenfuß lehnen, als ihr eine von der
Rückseite durchschimmernde Schrift auffiel. Sie drehte das Foto um. Da stand in
Pauls steiler Handschrift: Die Eltern, Hans Gustav, Ernst Emil, Frieder
Wilhelm, Karl Otto, Paul Theodor und... Sie musste den Namen mehrmals
lesen, bis sie ihren Augen traute. Aber dort stand klar und so deutlich wie die
anderen Namen: Margarete Line Schott.
Hatte die Antwort auf
ihre so brennende Frage die ganze Zeit da auf der Rückseite dieses Fotos
gestanden? Was hatte Margarete in ihrem Brief geschrieben? Wo war der Brief?
Sie musste ihn unbedingt noch einmal lesen. Da war etwas, das sie stutzig
gemacht hatte. Sie zog die Schublade ganz heraus, stellte sie auf den Tisch und
blätterte den Stoß Papiere durch. Sie musste nicht lange suchen. Paul hatte ihn
nicht weggeworfen.
Lieber Paul,
Du fehlst mir so sehr. Ich fühle
mich schrecklich allein. Ich weiß, dazu habe ich kein Recht, Gott hat diesen
Weg für mich bestimmt ...
Du kannst Dir nicht vorstellen, wie
es ist, mit einem Mann leben zu müssen, den du fürchtest. Warum bist Du nicht
da, Paul? Es gibt niemanden hier, dem ich mich anvertrauen kann. Und wenn das
Kind kommt, was schon in einem Monat sein wird, und es ihm ganz und gar nicht
ähnlich sieht, dann werde ich ihm nichts mehr verheimlichen können. Ich bete
Tag und Nacht, dass Gott ein Einsehen hat mit mir. Ich kann nur beten ...
Ich verspreche Dir, was geschehen
ist, wird unser Geheimnis bleiben. Niemals sollst Du meinetwegen in
Schwierigkeiten kommen.
Deine Line
Wen fürchtete Margarete?
Ihren Ehemann Hermann Weiß? Sie war schwanger, das stand fest, und offenbar
ahnte und fürchtete sie, dass das Kind nicht von ihm war. Aber von wem dann?
Eine schreckliche Gewissheit stellte sich plötzlich ein. Robert Gordon! Er
hatte Margarete gekannt! Er war auf der Missionsstation gewesen! Er hatte
Hermann Weiß als einen strengen, unnachgiebigen Mann beschrieben. Er mochte ihn
nicht. Und hatte er sich nicht seltsam benommen, als Emma ihn nach Margarete
gefragt hatte? Sollte das Verschwinden von Margarete und Hermann Weiß womöglich
mit der Geburt des Kindes zu tun haben? Und war Robert Gordon der Vater des
Kindes? Der Gedanke versetzte ihr einen Stich ins Herz. Vielleicht hatte er
einen ähnlichen Abend mit Margarete verbracht wie mit ihr ... Entschieden
kämpfte sie gegen die aufsteigende Erinnerung an die überwältigenden Minuten
an. Und wenn sich Margarete nicht wie sie, Emma, aus seinen Armen gerissen
hatte und ins Haus gerannt war? Sie ließ den Brief sinken und las erneut Pauls
letzte Worte an sie.
Emma, Du musst die
Missionsstation verlassen ... Gott will nicht, dass wir da sind. Er ruft uns
weg. Wir müssen seinem Ruf folgen ... musst Du sofort deine Koffer packen und
abreisen ... bleib nicht hier ...
Was fürchtete er? Sie
seufzte. Paul hatte selbst in seinem Abschiedsbrief sein Geheimnis nicht
preisgegeben.
Sie schlief unruhig und
wachte schließlich schweißgebadet auf. Schreckliche Träume hatten sie geplagt,
in denen Paul immer und immer wieder gestorben und ein Rudel hungriger Dingos
über John hergefallen war, während eine blutrote Sonne am Himmel gestanden
hatte. Gerädert stand sie auf und ging wie jeden Morgen hinüber zu den Hütten.
Doch die Menschen waren von einer seltsamen Stimmung ergriffen. Irgendetwas
schien auf ihnen zu lasten. Wirinun und der Älteste begegneten ihr mit
feindseligen Blicken, die sie erschauern ließen, und als sie Amboora fragte,
was denn geschehen sei, gab diese nur eine ausweichende Antwort. Emma wusste,
es war etwas im Gange, von dem nur sie keine Ahnung hatte ... und auch keine
haben sollte.
Wolken hatten sich vor
die Sonne geschoben und tauchten das ganze Land in ein schwefliges Gelb.
Weitere Kostenlose Bücher