Das Lied der alten Steine
während wir den Katarakt hinauffahren. Das soll sehr aufregend sein. Da können Sie jede Menge vom Boot aus zeichnen…«
Anna sah ärgerlich auf. »Arme Louisa. Wie konnte sie das aushalten? Sir John war so herablassend. Und was für ein Widerling dieser Carstairs war!«
Andy saß neben ihr und sah in das Buch auf ihrem Schoß. Sein Arm drückte sich an ihren, wie sie auf einmal bemerkte, und ihre Schenkel berührten sich. Es fühlte sich nicht unangenehm an, so nah neben ihm zu sitzen. Beinahe unbewusst berührte sie ihre Lippen mit den Fingern, als könnte sie noch den flüchtigen Kuss der vergangenen Nacht spüren. Verlegen schloss sie das Buch. »Andy, es ist fast Mittagessenszeit. Ich höre schon die anderen. Sie müssen von ihrem Einkaufstrip zurück sein.
Vielleicht können wir ein andermal mehr lesen.«
Er nickte zögernd. »Klar. Das hat Spaß gemacht.« Er stand auf und ging zur Tür. »Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, was weiter passiert.« Er drehte sich um und zwinkerte ihr zu. »Ich verlasse Sie, damit Sie sich fertig machen können. Bis gleich.«
Sie starrte die geschlossene Tür an. Der Raum wirkte plötzlich größer, leerer, irgendwie einsamer. Sie schüttelte den Kopf, stand auf und verstaute das Tagebuch in der Nachttischschublade.
Als sie in den Speisesaal kam, hatten die anderen schon Platz genommen. Neben Andy war ein Stuhl für sie freigehalten worden. Sie setzte sich und warf dabei einen Blick auf Toby. Er drehte ihr den Rücken zu, anscheinend hatte er ihr Kommen nicht bemerkt. Einen Augenblick betrachtete sie ihn nachdenklich, dann wandte sie sich ihrem Tisch zu. Charley saß zur Linken von Andy, dahinter Ben und Serena. Anna beugte sich vor und lächelte über den Tisch hinweg Serena an. »Schade, dass ich heute Morgen den Ausflug verpasst habe. Ich hätte gerne den Basar gesehen. Haben Sie etwas Hübsches gekauft?«
Serena nickte. »Ich zeige es Ihnen später.«
»Ich nehme an, Sie hatten auch einen hübschen Vormittag.«
Charley stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah an Andy vorbei. »Sie werden nicht allzu einsam gewesen sein. Wo doch Andy Ihnen Gesellschaft geleistet hat.«
Ali kam mit einem Stapel vorgewärmter Teller und begann sie auf dem Tisch zu verteilen. Hinter ihm folgte Ibrahim mit einer Terrine voll dampfender Linsensuppe. Dankbar für die Unterbrechung wandte Anna sich ab, aber Charley ließ sich nicht abschütteln.
»Merkwürdig, dass ihr gleich beide verschlafen habt, nicht wahr?« Sie warf ihr Haar zurück, ohne auf Ibrahims Servieren achtzugeben.
»Haben Sie etwas Hübsches auf dem Basar gekauft, liebe Charley?«, unterbrach Ben freundlich.
Sie überhörte es. »Ich schätze, der Basar war zu gewöhnlich für Anna. Schließlich stammt sie von einer berühmten Malerin ab. Sie will einfach nur faulenzen und warten, dass alle anderen sich um sie scharen. Wundert mich, dass sie nicht mit einer Privatyacht fährt. Aber dann hätte sie ja keine netten, ungebundenen Männer kennen lernen können.« Sie lehnte sich triumphierend zurück. »Ali? Wo ist mein Wein?« Ihr Ruf ließ den jungen Kellner nervös hochspringen. Er verbeugte sich und eilte zu dem Serviertisch in der Mitte, um die Flasche zu finden, auf der ihr Name stand. Sie goss sich ein Glas ein und leerte es in einem Zug.
»Charley, mach mal halb lang.« Andy lehnte sich zu ihr hinüber. »Das ist doch alles nicht nötig.«
»Nein?« Sie bediente sich wieder. »Dieser ägyptische Wein ist Schrott. Er ist nicht stark genug.«
»Er ist gut.« Andy nahm ihr die Flasche aus der Hand und stellte sie außerhalb ihrer Reichweite auf den Tisch. »Komm, hör bitte auf damit. Lass uns einfach alle gute Freunde sein.«
Anna bemerkte plötzlich, dass es im Speisesaal sehr still war.
Alle waren betreten und konzentrierten sich auf ihre würzige, dickflüssige Suppe, die mit frischer Minze garniert war. Sie spürte, dass Ibrahim hinter ihr einen Korb mit warmen Brötchen herumgehen ließ. Sie blickte zu ihm auf, aber sein Blick ruhte auf dem Korb, sein Gesicht war völlig ausdruckslos.
Omar, der am Nachbartisch saß, stand schließlich auf. Man konnte ihm anmerken, dass er nicht gerne hineingezogen werden wollte. Er kam langsam herüber. »Ist alles in Ordnung, Herrschaften?«
»Es geht schon.« Andy sah zu ihm auf. »Wir kommen zurecht.«
Omar blieb einen Augenblick stehen, dann nickte er und wandte sich um. Toby saß seitwärts auf seinem Stuhl, einen Arm über die Rückenlehne gelegt, und
Weitere Kostenlose Bücher