Das Lied der alten Steine
beobachtete die Szene unverhohlen. Als sich ihre Blicke trafen, zwinkerte er Anna ironisch zu. Sie lächelte unsicher zurück.
Die Teller wurden abgeräumt und durch neue ersetzt.
Hochgetürmte Schalen mit Reis und Kebeiya – Fleischklößchen
– wurden aufgetragen.
Anna blickte um den ganzen Tisch herum. Charley hatte sich noch ein Glas Wein eingeschenkt. Sie trank ihn in übellaunigem Schweigen, während Serena ihr dabei zusah.
»Es ist doch recht anders als ein elegantes Essen auf einer privaten Dahabiya «, bemerkte Andy leise. »So zu reisen muss wundervoll gewesen sein, mit so viel Muße, Zeit und Geld.«
Anna nickte.
»Ich werde nicht vergessen, dass ich die Fortsetzung lesen darf«, fuhr er fort. »Ich will wissen, wie es weitergeht.« Er lächelte sie an.
»Das glaube ich Ihnen.«
Auf seiner anderen Seite saß Charley, die Finger um ihr Glas geschlossen, und starrte in die Ferne. Als hätte sie Annas Blick gespürt, richtete sie sich plötzlich auf. Sie nahm noch einen großen Schluck und beugte sich dann vor, um Anna ins Gesicht zu sehen.
»Ich trete ihn nicht an Sie ab, wissen Sie. Du gehörst mir, stimmt’s, Süßer?« Ihre Hand landete auf Andys, die neben seinem leeren Teller ruhte, und ein Fingernagel kratzte über sein Handgelenk.
Er fuhr zusammen. »Charley!«
Sie lächelte süßlich. »Ja, Charley. Und wenn die süße kleine Anna sich zwischen uns drängt, dann werde ich noch ganz andere Seiten aufziehen, als nur ihre blöde ägyptische Flasche zu stehlen, das kannst du mir glauben…« Sie brach mit einem Quietschen ab, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
»Genug Drohungen, junge Frau!«
Toby war aufgestanden, ohne dass einer von ihnen es bemerkt hatte, und stand direkt hinter ihr. »Kommen Sie. Sie essen sowieso nichts und Sie verursachen hier nur viel Kummer. Ich schlage vor, dass Sie rausgehen und sich erst einmal ausschlafen.« Er packte sie am Arm und zog sie hoch. Das Weinglas flog ihr aus der Hand und entleerte sich auf Andys Hemd.
Mit einem Wutschrei wirbelte Charley herum und schlug Toby ins Gesicht.
»Nehmen Sie Ihre Hände weg!«
Andy versuchte verzweifelt, sich mit seiner Serviette abzuwischen.
»Bitte, Mr. Toby, lassen Sie mich das machen!« Omar versuchte Toby wegzuziehen, während Ibrahim und Ali zu beiden Seiten mit neuen Tischtüchern auftauchten.
»Lassen Sie nur, ich schaffe das schon.« Toby hielt die schreiende Charley an den Schultern fest. »Ich stecke sie in ihre Kabine. Los, kommen Sie, Schluss jetzt mit den Faxen.« Er brachte sie aus dem Gleichgewicht und in Sekundenschnelle hatte er sie aus dem Raum geschleppt. Die Türen fielen hinter ihnen zu.
Serena erhob sich von ihrem Stuhl. »Ich schaue lieber mal nach ihr.«
Andy sprang auf. »Nein, bleib hier. Ich gehe und sehe nach, ob sie okay ist.« Er ließ seine weinfleckige Serviette fallen und rannte hinterher. Aber zuerst raunte er Anna noch zu: »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass er gewalttätig ist.« Dann war er fort.
Serena setzte sich achselzuckend und wandte sich wieder dem Tisch zu. Es schien nur Sekunden zu dauern, bis Ibrahim und Ali ein neues Tischtuch aufgelegt und den Tisch wieder gedeckt hatten. Der nächste Gang folgte. Daraufhin wurden die Gespräche im Speisesaal wieder aufgenommen – etwas lauter als zuvor.
Andy kehrte erst nach zehn Minuten zurück. Er hatte Hemd und Hose gewechselt. »Sie schläft.« Er nahm auf seinem Stuhl Platz.
»Und Toby?« Anna studierte sein Gesicht. »Ich hoffe, Sie haben sich nicht geprügelt.«
Andy lachte. »Nein, wir haben uns nicht geprügelt. Ich habe ihm geholfen, Charley in ihre Kabine zu tragen und ins Bett zu legen. Wir haben ihr die Schuhe ausgezogen und sie dann so liegenlassen.«
»Und wo ist Toby?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wollte er ganz schnell die Szene malen, so wie Louisa das getan hätte. Wer weiß?« In seiner Wange war ein ärgerliches Zucken zu sehen, plötzlich schien er sehr blass. Er streckte die Hand nach Charleys Weinflasche aus und schenkte sich ein Glas ein.
Anna machte ein zerknirschtes Gesicht. »Tut mir Leid, dass ich gefragt habe.«
Sie aßen eine Weile schweigend, dann sah Serena auf. »Also, wann fahren wir los zum Staudamm?«
»Bald.« Omar hatte ihre Frage gehört und stand auf.
»Herrschaften, bitte beeilen Sie sich mit dem Kaffee. Wir fahren gleich.« Er lächelte in alle Richtungen. »Gleich nach englischer Zeit, bitte, also heute. Nicht gleich nach ägyptischer Zeit, das wäre erst nächste
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