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Das Lied der alten Steine

Das Lied der alten Steine

Titel: Das Lied der alten Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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verbieten, sich etwas einzubilden, etwas vorauszusehen, etwas zu fürchten. Und sie konnte sich noch an einen weiteren Gedanken klammern. Die Möglichkeit, dass Andy Recht und sie und Serena Unrecht hatten. Dass die unklaren Visionen, die in ihr Bewusstsein drangen, nichts anderes waren als Fieberfantasien eines überhitzten Gehirns.
    Sie setzte sich aufs Bett und zog die Nachttischschublade auf.
    Es konnte nichts schaden, in das Tagebuch zu schauen, bis Serena kam. Selbst wenn Louisa über die Priester und ihre eigenen Visionen schrieb, würde sie das ablenken. Sie zog es

    heraus und betrachtete eine Weile den abgegriffenen Einband.
    Sie fragte sich plötzlich, ob Phyllis geahnt hatte, was für eine Zeitbombe sie auf ihre Großnichte losgelassen hatte, als sie das Tagebuch weitergab, und viele Jahre zuvor das Fläschchen, ein romantisches Geschenk für ein kleines, habgieriges Kind?
    Sie seufzte. Ohne sich auch nur mit einem Blick in der Kabine umzuschauen, öffnete sie das Tagebuch und suchte nach dem Buchzeichen, das sie zwischen die Seiten gelegt hatte, die Postkarte mit dem Tempel von Edfu vor einem prächtigen Sonnenuntergang.

    Louisa sprach heimlich mit dem Reis und bat ihn, Hassan eine Nachricht zu überbringen, aber er schüttelte nur den Kopf. Das freundliche Lächeln, die blitzenden Augen ihres Kapitäns waren verschwunden. Er sah sie kalt und vorwurfsvoll an und wandte sich dann mit knapper formeller Höflichkeit wieder seinen Pflichten zu. Louisa stieg mit ihrem Sonnenschirm, der sie vor der Morgensonne schützte, auf das obere Deck und lehnte sich an die Reling. Sie starrte über den Nil auf die Anlegestellen am anderen Ufer. Die Dahabiya der Fieldings war verlassen. Auf der von Lord Carstairs dahinter zeigte sich nur ein einzelner Mann, der im Schneidersitz auf dem Hinterdeck saß und ein Segel flickte. Traurig zerknüllte sie den Zettel, den sie an Hassan geschrieben hatte, und ließ ihn ins Wasser fallen. Eine Weile schwamm er, dann saugte er sich voll, sank und war nicht mehr zu sehen.
    Etwas später hörte sie Ruder in den Dollen ächzen. Ihr Herz sank als sie sah, dass Lord Carstairs sich zu ihnen rudern ließ.
    Sie lächelte nicht, als er grüßend die Hand hob. Stattdessen wandte sie sich ab, als hätte sie ihn nicht gesehen, und begab sich auf die andere Seite, um zur Stadt zu schauen. Augusta war mit den Damen Fielding am frühen Morgen an Land gegangen, um den Basar zu besuchen. Louisa hatte abgelehnt, sie zu begleiten. Sie hatte nicht die mindeste Lust einzukaufen.
    Nur wenig später hörte sie hinter sich Schritte auf dem Deck.
    »Mrs. Shelley. Ich muss mich aus tiefstem Herzen bei Ihnen entschuldigen.«
    Ohne sich umzuwenden, sagte sie: »Das ist richtig, Lord Carstairs. Und aus noch tieferem Herzen müssen Sie sich bei meinem Dragoman entschuldigen, der wegen Ihrer Einmischung entlassen worden ist.«
    Einen Augenblick herrschte Schweigen. Da sie offensichtlich nicht die Absicht hatte, sich umzudrehen und mit ihm zu sprechen, stellte sich Lord Carstairs neben sie an die Reling.
    »Meine Beweggründe waren nichts anderes als ehrenhaft, das versichere ich Ihnen«, sagte er leise. »Wollen Sie mir gestatten, das wieder gutzumachen? Wie ich gehört habe, werden wir heute Nachmittag den Katarakt hinaufgezogen. Die Ibis soll wohl den Anfang machen. Darf ich Sie vielleicht zu einem Picknick auf den Felsen begleiten, sodass Sie zusehen können, wie das Schiff von hier aus seine Reise flussaufwärts antritt?
    Das wäre ein wunderbarer Gegenstand zum Malen. Ich habe gehört, dass die Nubier sich wie Fische im Wasser bewegen, wenn sie die Taue ziehen. Auch ihre Kinder machen mit. Das wird ein großartiger Anblick sein.«
    Seite an Seite starrten sie über das Wasser. In der Ferne konnte sie die Gans auf dem Felsgesims sehen, die von Pferden gezogen wurden, die Esel mit ihren so unterschiedlichen Reitern und mehrere Boote, die neben dem Quai auf den Sand heraufgezogen worden waren. Er betrachtete alles schweigend, zufrieden, dass er ihr das Angebot überbracht hatte. Vielleicht ahnte er auch, welchen Kampf sie mit ihrem Gewissen ausfocht.
    Eine Hälfte von ihr wollte die Einladung unbedingt annehmen.
    Die Gelegenheit, das Schiff von den Felsen aus zu zeichnen, war zu verlockend, um sie nicht zu nutzen. Andererseits brannte immer noch ihre Wut gegen ihn und sie fühlte tief im Inneren, dass sie Hassan damit verraten würde.
    »Denken Sie bitte an Ihre Bilder, Mrs. Shelley. Es wäre doch eine Schande,

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