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Das Lied der alten Steine

Das Lied der alten Steine

Titel: Das Lied der alten Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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ihr einen Schmerzensschrei, wie er die zarten Knöchel zwischen seinen Fingern drückte. »Hilfe!« Ihr Schrei war nicht mehr als ein Flüstern. »Anhotep, wenn es dich gibt, dann hilf mir jetzt!«
    Die Kerze flackerte.
    Carstairs lachte wieder. »So so, unsere kleine Witwe beschwört den Hohepriester, aber sie weiß nicht wie.« Er stieß sie so grob gegen die Wand, dass sie keine Luft mehr bekam.
    »Wo ist die Flasche…«Er brach mitten im Satz ab. Das Schiff schwankte heftig. Oben an Deck blickte der Reis über die Reling. Ein Tau hatte sich gelöst und die Ibis war von der starken Strömung gedreht worden. Sie hörten Rufe und das Rennen eiliger Füße.
    »Warum?«, ächzte sie. »Warum wollen Sie sie unbedingt haben?«
    Er starrte auf sie herab. »Ich muss sie haben. Sie ist unverzichtbar für mich. Das ist keine Nippsache zum Spielen für Sie. Es ist ein heiliges Chrismatorium. Es enthält Macht. Macht, die nur ich benutzen kann!« Seine Augen glitzerten fiebrig und immer fester schlossen sich seine Finger um ihr Handgelenk.
    »Anhotep!« Louisa kämpfte mit aller Kraft gegen ihn an.
    »Lass es nicht zu, dass er mir etwas zuleide tut…«
    Die Kerzenflamme flackerte und neigte sich seitwärts, obwohl sich in der kleinen Kabine kein Lufthauch regte. Louisa öffnete die Augen und blickte an Carstairs vorbei zum Fenster. Dort stand eine Gestalt – wie ein Schleier, undeutlich. Sie konnte durch ihn die Wand, die Jalousien und den Schal sehen, den sie auf den Hocker geworfen hatte.
    »Anhotep! Hilf mir!« Diesmal war ihre Stimme kräftiger. Die Angst vor dem Mann, der halb auf ihr lag, war weitaus größer als ihre Angst vor dem Schatten aus ferner Vergangenheit.
    Carstairs zog sich ein wenig zurück, auch er hatte die atmosphärische Veränderung des Raumes und das seltsame Verhalten der Kerzenflamme bemerkt. Da ihr Blick auf etwas hinter seiner Schulter gerichtet war, drehte er sich zum Fenster um und schnappte nach Luft. In Sekundenschnelle stieß er sich vom Bett ab.
    »Diener der Isis, ich entbiete dir einen Gruß!« Er verbeugte sich tief, ohne auf Louisa zu achten, die auf dem Bett hockte und sich so klein wie möglich machte.
    Die Kabine enthielt kaum mehr Luft; die Kerzenflamme, die Augenblicke zuvor noch wild flackert und geraucht hatte, war zu einem schwachen Glühen geworden. Jeden Augenblick würde sie ganz erlöschen. Die Gestalt verblasste.
    Louisa sprang vom Bett auf die Tür zu und tastete nach dem Riegel. Als die Gestalt endgültig verschwunden war, drehte sich Carstairs wieder zu ihr um. Seine Hände tasteten nach ihren Schultern, gerade als sie den Riegel gefunden hatte. Voller Verzweiflung zerrte sie daran, fühlte ihn nachgeben, aber es war zu spät. Er schleppte sie weg von der Tür und stieß sie wieder aufs Bett. Sie holte Atem, um zu schreien, doch er presste ihr seine Hand auf den Mund. Wieder hörte sie ihn lachen. Es klang erregt und triumphierend.
    Gerade in dem Augenblick, als er Anstalten machte, ihre Bluse aufzureißen, klopfte es an der Kabinentür.

9
    Ehre sei dir, Amun-Re,
    der du über den Himmel wanderst,
    jedes Gesicht erblickt dich.
    Die Menschen rühmen deinen Namen.
    Millionen von Jahren sind hingegangen über die Welt.
    Du gleitest durch ungeahnte Räume,
    reist durch ungeahnte Zeiten…

    Wieder wird der Sand verweht. Das aufgebrochene, verlassene Grab wird wieder darunter verborgen. Die Mumien sind für immer dem Staub des Vergessens anheim gefallen; nur ihre Namen überleben, in Stein gemeißelt. Jahrhunderte vergehen, in denen die Priester nicht mehr sind als Schatten ohne Substanz, nichts im Licht der Sonne, nichts unter dem Mond, vergessen die Gelübde, die sie sterbend abgelegt haben, verbraucht der Hass, nicht mehr als ein Seufzen im Wind über den Sandhügeln.
    Gott ist unter einem neuen Namen in das Land Kernet gekommen. Die alten Götter Ägyptens schlafen. Ihre Diener haben ihren Glanz eingebüßt. 3000 Jahre sind vergangen, seit das Grab über den Mumien der beiden Priester zum ersten Mal versiegelt wurde.

    Die Hand, die das vergessene Fläschchen aus dem Sand gräbt, während der Vater in der Nacht nach größeren Schätzen sucht, ist die Hand eines Kindes. Der Knabe kratzt es mit gierigen Fingern los und hält es erfreut hoch, er sieht das Glas vor den aufsteigenden Strahlen der neugeborenen Sonne.
    Aus dem feuchten Hauch der Morgendämmerung taucht ein Schatten auf, dann noch einer, und lächelt auf den Knaben herab. Nur der Esel spürt die Gefahr. Er

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