Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
Vaters Grab. Mit einem letzten Schnappen nach Sommers Gesicht ließ Struppel von ihm ab und sprang an Rickons Seite. »Lasst meinen Vater in Frieden«, warnte Rickon Luwin, »lasst ihn in Frieden.«
»Rickon«, sagte Bran sanft. »Vater ist nicht hier.«
»Ist er doch. Ich habe ihn gesehen.« Tränen glänzten auf Rickons Gesicht. »Ich habe ihn letzte Nacht gesehen.«
»Im Traum …?«
Rickon nickte. »Lasst ihn. Lasst ihn in Ruhe. Jetzt kommt er heim, wie er es versprochen hat. Er kommt nach Hause. «
Nie zuvor hatte Bran Maester Luwin derart verunsichert gesehen. Blut tropfte von seinem Arm, wo Struppel die Wolle seines Ärmels und das Fleisch darunter zerfetzt hatte. »Osha, die Fackel«, sagte er, biss vor Schmerz die Zähne zusammen, und sie hob sie auf, bevor sie erlosch. Rußflecken
schwärzten beide Beine vom Ebenbild seines Onkels. »Dieses … dieses Biest«, fuhr Luwin fort, »sollte im Zwinger angekettet sein.«
Rickon tätschelte Struppels Schnauze, die feucht vom Blut war. »Ich hab ihn rausgelassen. Er mag keine Ketten.«
»Rickon«, sagte Bran, »würdest du gern mit mir kommen? «
»Nein. Es gefällt mir hier.«
»Hier ist es so dunkel. Und kalt.«
»Ich fürchte mich nicht. Ich muss auf Vater warten.«
»Du kannst bei mir warten«, sagte Bran. »Wir warten gemeinsam, du und ich und unsere Wölfe.« Beide Schattenwölfe leckten nun ihre Wunden, und man würde auf sie achten müssen.
»Bran«, sagte der Maester mit fester Stimme, »ich weiß, dass du es gut meinst, aber Struppel ist zu wild, als dass er frei herumlaufen könnte. Ich bin schon der Dritte, den er angefallen hat. Lass ihn in der Burg frei laufen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er jemanden tötet. Die Wahrheit ist hart, aber der Wolf muss angekettet werden, oder …« Er zögerte.
… oder getötet, dachte Bran, doch was er sagte, war: »Er ist nicht für die Kette gemacht. Wir werden in Eurem Turm warten, wir alle.«
»Das ist ganz unmöglich«, sagte Maester Luwin.
Osha grinste. »Der Junge ist hier der kleine Lord, wenn ich mich recht erinnere.« Sie gab Luwin seine Fackel zurück und nahm Bran wieder in ihre Arme. »Dann also zum Turm des Maesters.«
»Kommst du mit, Rickon?«
Sein Bruder nickte. »Wenn Struppi auch mitdarf«, sagte er, indem er Osha und Bran nachlief, und Maester Luwin blieb nur, ihnen zu folgen und ein wachsames Auge auf die Wölfe zu haben.
In Maester Luwins Turm herrschte ein solches Durcheinander, dass es Bran wie ein Wunder vorkam, wie er überhaupt je etwas fand. Schwankende Bücherstapel standen auf Tischen und Stühlen, verstöpselte Flaschen reihten sich auf den Regalen aneinander, Kerzenstummel und ganze Teiche von getrocknetem Wachs überzogen die Möbel, das bronzene, myrische Linsenrohr stand auf einem Dreifuß an der Terrassentür, Sternenkarten hingen an den Wänden, Schattenkarten lagen zwischen den Binsen verstreut, Papiere, Federn und Tintenfässer überall, und das alles war vom Kot der Raben im Gebälk befleckt. Deren schrilles Geschrei kam von oben herab, während Osha die Wunden des Maesters wusch, reinigte und verband, unter Luwins präziser Anleitung. »Das ist verrückt«, sagte der kleine, graue Mann, als sie die Wolfsbisse mit einer brennenden Salbe abtupfte. »Zugegebenermaßen ist es merkwürdig, dass ihr Jungen beide denselben Traum hattet, doch wenn man genauer darüber nachdenkt, ist es nur natürlich. Euer Hoher Vater fehlt euch, und ihr wisst, dass er gefangen ist. Angst kann einen Menschen fiebrig machen und ihm seltsame Gedanken einflößen. Rickon ist zu jung, das zu verstehen.«
»Ich bin schon vier«, sagte Rickon. Er spähte durch das Linsenrohr zu den Wasserspeiern am Ersten Fried hinüber. Die Schattenwölfe hatten sich an gegenüberliegenden Seiten des runden Raumes niedergelassen, leckten ihre Wunden und kauten an Knochen herum.
»… zu jung, und … ooh, bei allen sieben Höllen, das brennt, nein, hör nicht auf, mehr. Zu jung, wie ich sage, aber du, Bran, du bist alt genug, um zu wissen, dass Träume nur Träume sind.«
»Manche sind es, manche nicht.« Osha goss hellrote Feuermilch in einen langen Schnitt. Luwin stöhnte. »Die Kinder des Waldes könnten Euch das eine oder andere über Träume erzählen.«
Tränen liefen dem Maester übers Gesicht, doch schüttelte er verbissen den Kopf. »Die Kinder … leben nur in Träumen. Heute. Tot und begraben. Genug, es reicht. Jetzt den Verband. Polstern und dann umwickeln, und zieh es fest,
Weitere Kostenlose Bücher