Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
wieder dicke, braune Locken wippten. Sansa sprach nicht mit ihnen, außer dass sie Anweisungen gab. Sie waren Dienerinnen der Lennisters, nicht ihre eigenen, und sie traute ihnen nicht. Als es Zeit wurde, sich anzuziehen, wählte sie das grüne Seidenkleid, das sie beim Turnier
getragen hatte. Sie erinnerte sich, wie galant sich Joff ihr gegenüber an jenem Abend beim Fest benommen hatte. Vielleicht erinnerte es auch ihn daran, und er würde sie sanfter behandeln.
Sie trank ein Glas Buttermilch und knabberte an süßem Brot herum, während sie wartete, um ihren Magen zu beruhigen. Es war Mittag, als Ser Meryn wieder kam. Er hatte seine weiße Rüstung angelegt. Ein geschupptes Hemd aus Emaille, mit Gold ziseliert, ein hoher Helm mit einer goldenen Sonne darauf, Beinschienen und Ringkragen und Panzerhandschuhe und Stiefel auf glänzendem Metall, dazu einen schweren Wollumhang, der von einem goldenen Löwen gehalten wurde. Sein Visier war vom Helm entfernt worden, sodass sein strenges Gesicht besser zu sehen war, dicke Tränensäcke unter den Augen, ein breiter, mürrischer Mund, rostfarbenes Haar voll grauer Flecken. »Mylady«, sagte er und verneigte sich, als hätte er sie nicht drei Stunden zuvor blutig geschlagen. »Seine Majestät hat mich angewiesen, Euch in den Thronsaal zu begleiten. «
»Hat er Euch ebenfalls angewiesen, mich zu schlagen, falls ich mich weigere?«
»Weigert Ihr Euch denn, Mylady?« Der Blick, den er ihr zuwarf, war ohne jeden Ausdruck. Den Bluterguss, den sie ihm verdankte, schien er nicht zu bemerken.
Er hasste sie nicht, wie Sansa merkte, doch liebte er sie auch nicht. Er empfand rein gar nichts für sie. Sie war für ihn nur ein Ding. »Nein«, sagte sie und erhob sich. Sie wollte toben, ihm Schmerz zufügen, wie er ihr Schmerz zugefügt hatte, ihn warnen, wenn sie erst Königin wäre, würde sie ihn in die Verbannung schicken, falls er jemals wieder wagen sollte, sie zu schlagen, doch fiel ihr ein, was der Bluthund ihr erklärt hatte, also sagte sie nur: »Ich will alles tun, was Seine Majestät befiehlt.«
»Genau wie ich«, gab er zurück.
»Ja, aber Ihr seid kein wahrer Ritter, Ser Meryn.«
Sandor Clegane hätte sie ausgelacht, das wusste Sansa. Andere Männer hätten sie verflucht, sie gewarnt zu schweigen, sie vielleicht sogar um Verzeihung gebeten. Ser Meryn Trant tat nichts dergleichen. Ser Meryn Trant war es schlicht gleichgültig.
Auf dem Balkon war niemand außer Sansa. Mit geneigtem Kopf stand sie da, rang ihre Tränen nieder, während unten Joffrey auf seinem Eisernen Thron saß und sprach, was er für Recht hielt. Neun von zehn Fällen schienen ihn zu langweilen. Die Behandlung dieser überließ er seinem Rat und wand sich rastlos, während Lord Baelish, Großmaester Pycelle oder Königin Cersei die Sache entschieden. Wenn er sich jedoch entschloss, über jemanden zu richten, konnte ihn nicht einmal seine Mutter in seinem Urteil umstimmen.
Ein Dieb wurde ihm vorgeführt, und er ließ ihm von Ser Ilyn eine Hand abschlagen, gleich dort bei Gericht. Zwei Ritter kamen mit einem Streit um ein Stück Land zu ihm, und er entschied, sie sollten sich am Morgen darüber duellieren. »Bis zum Tod«, fügte er hinzu. Eine Frau fiel auf die Knie und bat um den Kopf eines Mannes, der als Verräter hingerichtet worden war. Sie habe ihn geliebt, sagte sie, und sie wolle dafür sorgen, dass er anständig beerdigt würde. »Wenn du einen Verräter geliebt hast, musst du selbst eine Verräterin sein«, sagte Joffrey. Zwei Goldröcke schleppten sie fort in den Kerker.
Der froschgesichtige Lord Slynt saß am Ende des Ratstisches und trug ein schwarzes Wams aus Samt mit einem schimmernden Umhang aus Goldtuch, und er nickte jedes Mal zustimmend, wenn der König ein Urteil fällte. Harten Blickes starrte Sansa in sein hässliches Gesicht, erinnerte sich daran, wie er ihren Vater zu Boden gestoßen hatte,
damit Ser Ilyn ihn enthaupten konnte, wünschte sich, sie könne ihn verletzen, wünschte sich, irgendein Held würde ihn zu Boden stoßen und ihm den Kopf abschlagen. Doch eine Stimme in ihrem Inneren flüsterte: Es gibt keine Helden, und sie dachte daran, was Lord Petyr zu ihr gesagt hatte, hier in ebendiesem Saal. »Das Leben ist kein Lied, süßes Kind«, hatte er ihr erklärt. »Das wirst du zu deinem Bedauern eines Tages feststellen müssen.« Im Leben siegen die Ungeheuer, sagte sie sich, und dann hörte sie die Stimme des Bluthunds, ein kaltes Krächzen wie Metall auf Stein.
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