Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
sehen, wo ihr Vater gestorben war. Am anderen Ende der Straße der Schwestern standen die vom Feuer geschwärzten Ruinen der Drachenhöhle. Im Westen verschwand die pralle Sonne halb hinter dem Tor der Götter. Hinter ihr lag das salzige
Meer und im Süden der Fischmarkt und der Hafen und der wilde Strom des Schwarzwassers. Und im Norden …
Sie wandte sich dorthin und sah nur die Stadt, Straßen und Gassen und Hügel und Täler und noch mehr Straßen und noch mehr Gassen und den Stein ferner Mauern. Doch wusste sie, dass sich jenseits davon offenes Land befand, Höfe und Felder und Wälder, und dahinter, nördlich und nördlich und wieder nördlich, stand Winterfell.
»Wohin siehst du?«, sagte Joffrey. »Das hier wollte ich dir zeigen, da vorn.«
Eine dicke, steinerne Brüstung schützte den Außenrand der Wehranlage, reichte bis an Sansas Kinn, mit Zinnen, die alle fünf Fuß weit für die Bogenschützen hineingemei-ßelt waren. Die Köpfe befanden sich zwischen den Zinnen, oben auf der Mauer, auf Eisenstangen aufgespießt, sodass sie auf die Stadt hinausblicken konnten. Sansa hatte sie in dem Moment bemerkt, als sie auf den Gang hinausgetreten war, doch der Fluss und die geschäftigen Straßen waren so viel schöner. Er kann mich zwingen, einen Blick auf die Köpfe zu werfen, sagte sie sich, aber er kann mich nicht zwingen, sie zu sehen.
»Das hier ist dein Vater«, sagte er. »Der hier. Hund, dreh ihn um, damit sie ihn betrachten kann.«
Sandor Clegane nahm den Kopf bei den Haaren und drehte ihn um. Man hatte den abgeschlagenen Schädel in Teer getaucht, damit er sich länger hielt. Ruhig warf Sansa einen Blick darauf, doch sah sie ihn nicht. Er sah nicht wirklich wie Lord Eddard aus, dachte sie. Er sah nicht einmal echt aus. »Wie lange muss ich ihn mir anschauen?«
Joffrey schien enttäuscht. »Willst du die anderen sehen?« Es war eine ganze Reihe davon.
»Wenn es Euch beliebt, Majestät.«
Joffrey geleitete sie den Gang hinunter, an einem Dutzend weiterer Köpfe und zwei leeren Spießen vorüber. »Die
hier spare ich mir für meinen Onkel Stannis und meinen Onkel Renly«, erklärte er. Die anderen Köpfe waren schon viel länger tot und aufgespießt als der ihres Vaters. Trotz des Teers waren die meisten schon lange nicht mehr zu erkennen. Der König deutete auf einen und sagte: »Das da ist deine Septa«, aber Sansa hätte nicht sagen können, ob es eine Frau war oder nicht. Der Unterkiefer war aus dem Gesicht gefault, und Vögel hatten ein Ohr und den Großteil ihrer Wange ausgepickt.
Sansa hatte sich schon gefragt, was mit Septa Mordane geschehen war, obwohl sie vermutete, dass sie es insgeheim lange schon gewusst hatte. »Warum habt Ihr sie getötet?«, fragte sie. »Sie war eine götterfürchtige …«
»Sie war eine Verräterin.« Joffrey schien zu schmollen. Irgendwie verärgerte sie ihn. »Du hast noch nicht gesagt, was du mir zu meinem Namenstag schenken willst. Vielleicht sollte ich stattdessen dir etwas schenken, was meinst du?«
»Wenn es Euch beliebt, Majestät«, sagte Sansa.
Als er lächelte, wusste sie, dass er sie verspottete. »Dein Bruder ist auch ein Verräter, weißt du.« Er drehte Septa Mordanes Kopf wieder zurück. »Ich erinnere mich an deinen Bruder noch von Winterfell. Mein Hund hat ihn den Lord vom hölzernen Schwert genannt. War es nicht so, Hund?«
»Habe ich?«, erwiderte der Bluthund. »Ich erinnere mich nicht.«
Joffrey zuckte verdrießlich mit den Schultern. »Dein Bruder hat meinen Onkel Jaime besiegt. Meine Mutter sagt, es sei Verrat und Hinterlist gewesen. Sie hat geweint, als sie es hörte. Alle Frauen sind schwach, selbst sie, obwohl sie vorgibt, es nicht zu sein. Sie sagt, wir müssen in Königsmund bleiben für den Fall, dass mein anderer Onkel angreift, aber mir ist das egal. Nach meinem Namenstagsfest werde ich ein Heer zusammenstellen und deinen Bruder höchstpersönlich
töten. Das will ich Euch schenken, Lady Sansa. Den Kopf Eures Bruders.«
Es kam wie eine Art von Wahnsinn über sie, und sie hörte sich sagen: »Vielleicht schenkt mir mein Bruder ja Euren Kopf.«
Finster blickte Joffrey sie an. »Nie sollst du mich so verspotten. Ein wahres Eheweib verspottet seinen Herrn nicht. Ser Meryn, züchtigt sie.«
Diesmal nahm der Ritter sie unter dem Kinn und hielt ihren Kopf still. Zweimal schlug er zu, von links nach rechts und fester noch von rechts nach links. Ihre Lippe platzte auf, und Blut lief über ihr Kinn, vermischte sich mit dem Salz ihrer
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