Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
ändern. Was er auch tat, stets fühlte sich Jon, als verriete er jemanden.
Selbst jetzt wusste er nicht, ob er das Ehrenhafte tat. Die Südländer hatten es leichter. Sie konnten mit ihrem Septon sprechen, der ihnen den Götterwillen erklärte und half, zu erkunden, was falsch war und was richtig. Die Starks huldigten den alten Göttern, den Namenlosen, und wenn die Herzbäume auch lauschten, so sprachen sie doch nicht.
Als die letzten Lichter der Schwarzen Festung hinter ihm vergingen, bremste Jon seine Stute. Er hatte eine lange Reise vor sich und nur dieses eine Pferd. Es gab Festungen und Bauerndörfer entlang der Straße in den Süden, wo er die Stute gegen ein frisches Pferd eintauschen konnte, wenn er eines brauchte, allerdings nicht, wenn sie zu Schanden geritten war.
Bald schon würde er sich neue Kleider besorgen müssen, höchstwahrscheinlich würde er sie stehlen müssen. Er war vom Scheitel bis zur Sohle schwarz gekleidet: hohe, lederne Reitstiefel, grobgewebte Hosen und Rock, ärmelloses Lederwams und ein schwerer Wollumhang. Langschwert und Dolch waren in schwarzes Hirschleder gehüllt und Ringkragen und Haube in seiner Satteltasche aus schwarzen Ketten. Jedes dieser Teile konnte seinen Tod bedeuten,
wenn er gefangen wurde. Einen schwarz gekleideten Fremden betrachtete man in jedem Dorf und jeder Festung nördlich der Eng mit kaltem Argwohn, und bald schon würden die Männer nach ihm suchen. Waren Maester Aemons Raben erst einmal ausgeflogen, wusste Jon, dass er nirgendwo mehr sicher wäre. Nicht einmal auf Winterfell. Bran mochte ihn einlassen wollen, doch Maester Luwin war dafür zu klug. Er würde die Tore verriegeln und Jon fortschicken, wie es sein sollte. Besser wäre es, wenn er gar nicht erst dorthin ginge.
Er sah die Burg deutlich vor seinem inneren Auge, als hätte er sie erst gestern hinter sich gelassen, die hohen, granitenen Mauern, die Große Halle mit ihrem Geruch nach Rauch und Hund und Braten, das Solar seines Vaters, die Turmkammer, in der er geschlafen hatte. Etwas in ihm wollte nichts so sehr, wie Bran noch einmal lachen hören, einen von Gages Schinkenaufläufen verspeisen oder der Alten Nan bei ihren Geschichten von den Kindern des Waldes und dem Narren Florian lauschen.
Deshalb jedoch hatte er die Mauer nicht hinter sich gelassen. Er war fortgeritten, weil er schließlich seines Vaters Sohn und Robbs Bruder war. Ein geschenktes Schwert, selbst ein so wertvolles wie Langklaue machte ihn nicht zu einem Mormont. Ebenso wenig war er Aemon Targaryen. Dreimal hatte der alte Mann die Wahl gehabt, und dreimal hatte er die Ehre gewählt, aber er war ein anderer Mensch. Auch jetzt noch konnte Jon sich nicht entscheiden, ob der Maester geblieben war, weil er schwach und feige oder stark und treu war. Wohl verstand er, was der alte Mann gemeint hatte, die Qual der Wahl. Das alles verstand er nur allzu gut.
Tyrion Lennister hatte behauptet, dass die meisten Menschen eine schwere Wahrheit eher leugnen würden, als sich ihr zu stellen. Jon wollte nichts mehr leugnen. Er war, wer
er war, Jon Schnee, Bastard und Eidbrecher, mutterlos, ohne Freunde, ja, und verdammt. Denn für den Rest seines Lebens – wie lange es auch dauern mochte – wäre er dazu verdammt, ein Ausgestoßener zu sein, der schweigende Mann im Schatten, der nicht wagt, seinen wahren Namen zu nennen. Wohin er in den Sieben Königslanden auch gehen mochte, würde er mit der Lüge leben müssen, damit nicht jedermann seine Hand gegen ihn erhob. Doch war es ihm egal, solange er seinen Platz an der Seite seines Bruders einnehmen und helfen konnte, seinen Vater zu rächen.
Er erinnerte sich an den Moment, als er Robb zuletzt gesehen hatte, wie er auf dem Hof stand, mit Schnee in seinem kastanienbraunen Haar. Jon würde im Geheimen zu ihm gehen müssen, verkleidet. Er versuchte, sich Robbs Miene vorzustellen, wenn er sich ihm offenbarte. Sein Bruder würde den Kopf schütteln und lächeln, und er würde sagen … er würde sagen …
Er konnte das Lächeln nicht sehen. Sosehr er sich bemühte, er konnte es nicht sehen. Er merkte, wie er an den Deserteur dachte, den sein Vater an jenem Tag enthauptet hatte, als sie die Schattenwölfe fanden. »Du hast den Eid gesprochen«, hatte Lord Eddard zu ihm gesagt. »Du hast einen Schwur geleistet, vor deinen Brüdern, vor den alten und den neuen Göttern.« Desmond und der dicke Tom hatten den Mann zum Baumstumpf gezerrt. Brans Augen waren groß wie Untertassen geworden, und Jon hatte
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