Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
glauben?«
»Nein, wirklich?«
»Wirklich. Ich soll Maester Aemon in der Bibliothek und mit den Vögeln helfen. Er braucht jemanden, der Briefe lesen und schreiben kann.«
»Da wirst du dich gut machen«, sagte Jon lächelnd.
Ängstlich blickte Sam in die Runde. »Ob ich schon gehen muss? Ich sollte nicht zu spät kommen, sonst überlegen sie es sich vielleicht noch anders.« Fast hüpfte er, als er den mit Unkraut übersäten Burghof überquerte. Der Tag war warm und sonnig. Kleine Rinnsale von Wasser tropften an der Seite der Mauer herab, sodass das Eis zu funkeln und zu leuchten schien.
In der Septe fing sich das Morgenlicht im großen Kristall, da es durch das südliche Fenster fiel, und breitete sich zu einem Regenbogen auf dem Altar aus. Pyps Unterkiefer sank herab, als er Sam entdeckte, und Kröte stieß Grenn in die Rippen, doch keiner traute sich, ein Wort zu sagen. Septon Celledar schwang ein Weihrauchfässchen und erfüllte die Luft mit duftendem Weihrauch, der Jon an Lady Starks kleine Septe in Winterfell erinnerte. Heute schien der Septon ausnahmsweise nüchtern zu sein.
Die hohen Offiziere trafen gemeinsam ein. Maester Aemon stützte sich auf Klydas, Ser Allisar mit kaltem Blick und grimmig, Lord Kommandant Mormont prächtig in schwarzem, wollenem Wams, gehalten von versilberten Bärenklauen. Hinter ihm kamen die älteren Mitglieder der drei Orden: der rotgesichtige Lord Haushofmeister Bowen Marsch, der Erste Baumeister Othell Yarwyck und Ser Jarmy Rykker, der die Grenzer während der Abwesenheit Benjen Starks kommandierte.
Mormont stand vor dem Altar, der Regenbogen leuchtete auf seinem breiten, kahlen Schädel. »Ihr seid als Geächtete zu uns gekommen«, begann er, »Wilderer, Vergewaltiger, Schuldner, Mörder und Diebe. Ihr seid als Kinder zu uns gekommen. Ihr seid allein zu uns gekommen, in Ketten, ohne Freunde, ohne Ehre. Ihr seid reich zu uns gekommen, und ihr seid arm zu uns gekommen. Einige von euch tragen die Namen stolzer Häuser. Andere tragen nur die von Bastarden oder überhaupt keine. Das alles spielt keine Rolle. Das alles ist nun vorüber. Auf der Mauer sind wir alle ein Haus.
Wenn der Abend kommt, wenn die Sonne untergeht und der Einbruch der Dunkelheit bevorsteht, werdet ihr euren Eid ablegen. Von dem Augenblick an werdet ihr Waffenbrüder der Nachtwache sein. Von euren Untaten seid ihr dann reingewaschen, eure Schulden sind getilgt. So müsst auch ihr eure früheren Verpflichtungen ablegen, euren Groll fallen lassen, altes Unrecht wie auch alte Liebe vergessen. Hier beginnt ihr von neuem.
Ein Mann der Nachtwache lebt sein Leben für das Reich. Nicht für einen König, nicht für einen Lord, nicht für die Ehre dieses oder jenes Hauses, weder für Gold noch für Ehre oder die Liebe einer Frau, sondern für das Reich und alle Menschen darin. Ein Mann der Nachtwache nimmt sich kein Weib und zeugt keine Söhne. Unser Weib ist die
Pflicht. Unsere Geliebte ist die Ehre. Und ihr seid die einzigen Söhne, die wir jemals haben werden.
Ihr habt die Worte des Eides gelernt. Denkt sorgsam nach, bevor ihr sie sprecht, denn habt ihr das Schwarz erst angelegt, gibt es kein Zurück. Die Strafe für Fahnenflucht ist der Tod.« Der Alte Bär legte einen Moment Pause ein, bis er sagte: »Sind unter euch welche, die uns verlassen möchten? Wenn ja, geht jetzt, und niemand wird schlecht von euch denken.«
Keiner rührte sich.
»Gut dann also«, sagte Mormont. »Ihr dürft euren Eid bei Einbruch der Dunkelheit hier ablegen, vor Septon Celladar und dem Ersten eurer Orden. Huldigt einer von euch den alten Göttern?«
Jon stand auf. »Ich, Mylord.«
»Ich denke, du wirst den Eid vor einem Herzbaum ablegen wollen, wie auch dein Onkel es getan hat«, sagte Mormont.
»Ja, Mylord«, antwortete Jon. Mit den Göttern der Septe hatte er nichts zu tun. In den Adern der Starks floss das Blut der Ersten Menschen.
Er hörte Grenn hinter sich flüstern. »Hier gibt es keinen Götterhain. Oder? Ich hab hier nie einen Götterhain gesehen. «
»Du würdest eine Herde Auerochsen auch erst sehen, wenn sie dich in den Schnee getrampelt hat«, flüsterte Pyp zurück.
»Würde ich nicht«, beharrte Grenn. »Ich würde sie schon von weitem sehen.«
Mormont selbst bestätigte Grenns Zweifel. »Die Schwarze Festung braucht keinen Götterhain. Jenseits der Mauer steht der Verfluchte Wald, wie er schon zu Urzeiten stand, lange bevor die Andalen die Sieben über die Meerenge gebracht haben. Du wirst einen Hain mit
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