Das Mädchen und der Schwarze Tod
ausweichen.«
»Nein, Marike. Du musst gehen. Du musst leben. Erinnerst du dich? Du hast versprochen, dir selbst treu zu sein. Die Leute da draußen stolpern Tag für Tag vor sich hin. Wenn das alles vorbei ist, brauchen die jemanden wie dich. Jemanden, der die Welt ein bisschen anders sieht. Eine, die mit den Augen direkt zu den Sternen schaut, anstatt stumpf und müde zu werden.«
»Aber...ich will bleiben, Liebes. Ich kann dich doch nicht alleine …« Sie konnte nicht weitersprechen, denn der Knoten im Hals schnürte ihr die Luft ab.
»… alleine sterben lassen?«, beendete Lyseke ihren Satz. »Beim Sterben kannst du mir nicht helfen, Dummchen. Diesen Schritt kann niemand mit mir gehen.« Sie schloss die Augen kurz, und eine Träne rann über ihre Wange. »Aber du kannst für mich leben.«
Nun war es um Marikes Selbstbeherrschung geschehen. Die Trauer schüttelte sie in unkontrollierten Schluchzern. Doch sie ließ die Hand der Freundin nicht los.
»Pscht«, machte die wieder, um sie zu beruhigen, und streichelte ihr mit dem Daumen den Handrücken. Marike versuchte zu lächeln, doch das misslang ihr gründlich. Die Kranke wirkte verhältnismäßig klar, als sie stirnruzelnd fragte: »Hast du’s eigentlich herausgefunden?«
»Was?«, murmelte Marike erstickt.
Lyseke studierte ihr Gesicht unter halb geschlossenen Lidern. »Wie Gunther gestorben ist. Weißt du’s?«
Marike schluckte schwer. Die Wahrheit würde Lyseke nicht gefallen. Doch eine Sterbende konnte sie ja kaum belügen. »Jemand hat ihn erschlagen. Zumindest glaube ich das.«
Die Kranke schloss kurz die Augen, und eine glitzernde Träne hinterließ eine helle Spur in ihrem schmutzigen Gesicht, das vor Fieber rot gefleckt war. »Ich hab’s gewusst. Wer?«
Diese Frage hatte Marike befürchtet. »Lyseke...«, begann sie, doch die Freundin drückte ihre Hand und fragte noch einmal: »Wer, Marike?«
Die Kaufmannstochter seufzte. Sie konnte ihr das nicht verschweigen – sie vor allen anderen verdiente die Wahrheit. »Ich glaube, es ist die Bruderschaft deines Vaters.« Marike sah, dass Lyseke sie ungläubig musterte und nach einer Spur von Humor oder Unehrlichkeit in ihrem Gesicht suchte. Dann schüttelte sie den inzwischen glühend roten Kopf.
»Nein, nein, nein, das kann nicht …«
»Lyseke, wir wissen doch -«
»Nein«, unterbrach die Freundin sie. Sie schwieg und atmete ein paarmal schwer durch, doch die Tränen flossen haltlos über ihre Wange. »Ich wünschte«, schluchzte sie dann hart, »ich wünschte, ich könnte sagen, dass er so etwas niemals tun würde.« Ihr Kopf verursachte ihr offenbar Schmerzen. Dann hauchte sie: »Bist du dir sicher?«
Marike zuckte mit den Schultern. »Ich habe keinerlei Beweise, wenn du das meinst. Aber ich bin mir sicher.«
Doch die Freundin hörte kaum zu. Sie wurde unruhig und trat mit den Beinen Decken und Leinen weg, warf den Kopf hin und her. Sie schien gleichzeitig zu schwitzen und zu frieren. »Er hat zu schnell Ja gesagt«, murmelte sie. »Es war zu leicht. Er wollte früher immer, dass ich in viel Geld einheirate. Er wollte, dass wir an der Spitze der Kaufleute von Lübeck stehen. Aber Gunther … er hat ihn nie gewollt.«
»Lyseke, es tut mir so leid.« Was sollte sie auch anderes sagen? Zu erfahren, dass der eigene Vater vielleicht den Bräutigam hatte ermorden lassen …
Lyseke regte sich nun erstaunlich kraftvoll in ihren Fesseln. Mühsam hob sie den Oberkörper und den Kopf, blinzelte ein paarmal, um besser sehen zu können, und starrte Marike mit unsteten Augen an. »Wer auch immer es war – er soll dafür bezahlen«, knurrte sie mit einer Stimme, die direkt aus der Hölle zu kommen schien. »Lass ihn nicht davonkommen, Marike!«
»Du willst …«
»… dass der Mörder von Gunther hängt. Er soll sterben!«
»Aber wenn es doch dein Vater ist?« Doch Lyseke zitterte stark und schien sie nicht zu hören.
»Lyseke... ich werd’s beweisen. Ganz bestimmt. Und dann...« Ja, was dann? Wenn Marike die Beweise für Oldesloes Schuld dem Stadtrat übergab, dann würden die ihn hängen. Ihretwegen.
Die Kraft der Fieberattacke wich aus Lysekes Körper, und sie ließ sich in das Bett zurückfallen. »Er hat es sich selbst zuzuschreiben.«
»Ja«, meinte Marike. »Es ist seine eigene Schuld.« Und sie meinte es so. Eigentlich war Oldesloe sogar an allem schuld. Daran, dass sie, Marike, erst Lynow hinterhergeschnüffelt hatte und Lyseke ihr auf das Fest der Fahrenden gefolgt war. Daran, dass
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