Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
das war mit dem Krieg gekommen, das stundenlange Fernsehen, das übersteigerte Interesse an den Hauptheldinnen Marisol, Kassandra oder wie auch immer sie hießen. Mutter hatte drei Fernsehgeräte, eins im Schlafzimmer, eins im Wohnzimmer und das dritte im so genannten Gästezimmer. DieFernsehhysterie, die Flucht in die Welt der billigen Seifenopern, die allgemeine Verzauberung, die hartnäckige Weigerung, der Wirklichkeit ins Auge zu blicken – das alles war eine Strategie der Selbstverteidigung. Die Wirklichkeit schlich sich in die Wohnungen nur über die Untertitel ein, die knapper waren als Marisols und Kassandras Dialoge, so wenig Raum wurde ihr gegeben. Die Soaps waren der Schaum, mit dem man die Angst löschte, man sah sie zweimal täglich, meist in Gesellschaft: Mutter, die Nachbarin Vanda und Frau Buden. Mit der Zeit wurden sie von der brasilianischen Droge abhängig.
Mutter, die Vertraulichkeiten mit Nachbarinnen nie hatte ausstehen können, sprach jetzt ständig von ihnen. An der Art, wie sie sie nannte, konnte ich erraten, wo sie auf Mutters Gefühlsskala standen. Wenn sie Frau oder Herr sagte (
Frau Frančetić vom fünften Stock sagt, dass die Amerikaner die Firma INA gekauft haben
), stand sie mit ihnen in guten Beziehungen. Sagte sie »Nachbarin« (
Die Nachbarin Vanda kann es kaum erwarten, dich zu sehen
), handelte es sich um eine vertraute Person. Wenn sie nur den Familiennamen benutzte (
Marković vom dritten Stock ist in letzter Zeit ständig betrunken
), hielt sie nicht viel von dem Betreffenden. Allmählich hatte sie sich aus Leuten um sie herum eine Familie geschaffen (
Sie sind, wie sie sind. In meinem Alter darf man nicht mehr wählerisch sein. Wenn mir etwas geschieht, werden sie mir beistehen. Du bist ja so weit weg …
). Das war ein schwerer Vorwurf: ihre Eltern habe sie vor langer Zeit verloren, ihren Bruder vor zehn Jahren, ihren Mann kurz vor dem Krieg, und ich sei möglichst weit von ihr fortgezogen.
Sie tat, als habe sie über nichts mehr eine eigene Meinung. Sie, die früher zu allem einen Standpunkt vertrat, mehr noch, nichts darauf gab, dass auch andere einen haben könnten, beriefsich jetzt ständig auf andere (
Frau Ferić sagt, dass Amsterdam kleiner ist als Zagreb
). Sie verstellte sich natürlich. Sie saß in ihrem unsichtbaren Rollstuhl und forderte von den Leuten Respekt vor ihrer »Invalidität«. Dafür gab sie ihnen in allem Recht.
»Um fünf kommt Vanda. Du könntest duschen und dich umziehen«, sagte sie.
Gehorsam ging ich ins Bad, duschte und wechselte die Kleidung.
Wir tranken mit Vanda Kaffee. Mutter erklärte ihr lebhaft, wie es mir in Amsterdam erging.
»Tanjica sagt, Amsterdam ist eine der schönsten Städte der Welt. Ich habe neulich einen Dokumentarfilm gesehen … Es ist viel schöner als Venedig«, erklärte sie.
Tanjica sagt dies, Tanjica sagt das … Das war ihre Art, Vanda etwas zur Kenntnis zu geben und dabei auch mir eine Botschaft zu übermitteln. Als Vanda gegangen war, strich ich ein wenig durch die Wohnung. Ich lobte das neue Schränkchen im Bad und bemängelte, dass dort ein gelber Fleck an der Decke war. Sie erregte sich: Das sei von den Ivićs durchgelaufen, aber die hätten es nicht besonders eilig, das in Ordnung zu bringen. So seien die Menschen, sie richten dir einen Schaden an und wollen es dann nicht gewesen sein. Ich mach das, sagte ich. Sie errötete fast vor Freude, nahm mein Versprechen wie eine Liebeserklärung auf. Ich würde mich um alles kümmern, ich würde für sie Sorge tragen (
Gott sei Dank ist meine Tanjica gekommen und hat alles in Ordnung gebracht … Danke, Nachbarin, nicht nötig, meine Tanjica macht das schon
).
Wir sahen uns die Fernsehnachrichten an. Sie instruierte mich, erklärte mir, wer wer und was was war: der neue Moderator des neuen Quiz, die neue Sprecherin, die neue Serie …
»Du weißt nichts! Als wärst du hundert Jahre weg gewesen und nicht bloß ein paar Monate«, sagte sie. Das war kein Vorwurf, das war eine Aufforderung, das Gespräch fortzusetzen. Sie hatte Recht. Ich wusste nichts mehr. Das Leben auf dem Bildschirm schien wirklich neu.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, seufzte sie auf einmal. »Alles ist sehr teuer geworden. Meine Rente ist nicht so klein, trotzdem frage ich mich, wie das Leben weitergehen soll. Vielleicht muss ich unser Ferienhaus verkaufen«, sagte sie.
»Verkauf es«, sagte ich.
»Und das wäre dir egal?«, sagte sie.
Wieder testete sie mich.
»Das nicht, aber
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