Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
mich bis zum Aufzug. Ich küsste sie auf die Wange.
»
Loveyouuu!
«, rief sie mir plötzlich nach, in einem Ton, den sie aus amerikanischen Fernsehfilmen hatte. Ich war verblüfft. Nie zuvor hatte sie diese Worte gebraucht, ich erinnere mich nicht, dass sie je das einfache
ich hab dich lieb
gesagt hätte. Dieses singende amerikanische
love youuuuu
, das sie mit rauer Stimme aussprach – wobei sie in diese Worte alles legte, was sie mir sagen wollte, aber nicht konnte oder wollte –, war der letzte Tiefschlag. Ich implodierte.
Durch das schmale Aufzugfenster sah ich wie durch eine Tauchermaske, dass sie ihre Hand ans Gesicht hob. Es schien, als wischte sie eine Träne weg. Ich drückte auf den Knopf. Ihre Pantoffeln glitten nach oben.
Loveyouuu
– glaubte ich im gleichen Singsang zu erwidern. Aber statt der Worte kam aus meinem Mund etwas wie ein Wimmern.
4.
Im Duty-free-Shop kaufte ich »Bajaderen« und einige Schachteln »Kraš«-Pralinen im Design des neuen kroatischen Passes. Diese »süßen kroatischen Reisedokumente« mit dem kroatischen Staatswappen auf dem Deckel waren wie ein Pass zu öffnen.
Als das Flugzeug abhob, verspürte ich eine undefinierbare Erleichterung. Ich blätterte abwesend im Croatia-Airlines-Magazin, ließ meinen Blick über die angepriesenen Flugziele gleiten, las flüchtig über istrische Trüffel, über die Naturschönheiten Korćulas, über den Ruhm des Pianisten Ivo Pogorelić, die Tenniserfolge Goran Ivaniševićs.
In den sieben Tagen hatte ich nichts erledigt. Meinen Personalausweis hatte ich nicht umgetauscht. Den Rechtsanwalt nicht angerufen. Das mit der Wohnung war ohnehin aussichtslos, solche Fälle gab es zu Tausenden. Die Sachen, die dort geblieben waren, konnte ich leicht verschmerzen. Nur den Büchern, meinen und denen von Goran, trauerte ich nach. Aber selbst wenn der jetzige Mieter sie herausrückte, wüsste ich nicht, wohin damit.
Die Nachbarn, die über meiner Mutter wohnten, versprachen, einen Handwerker zu finden, der den hässlichen gelben Fleck an der Badezimmerdecke entfernen würde. Ich ließ meiner Mutter etwas Geld für solche dringenden Angelegenheiten und besorgte ihr einen neuen Wasserhahn.
In den sieben Tagen sah ich mit meiner Mutter sieben Folgen einer brasilianischen Telenovela und lernte, die Personen der vielköpfigen Familie auseinander zu halten. Einer der drei Fernseher in Mutters Wohnung lief immer schon vom frühen Morgen an.
»So fühle ich mich nicht allein«, rechtfertigte sie sich.
»Du könntest etwas lesen.«
»Kann ich nicht … Meine Augen tun mir weh.«
»Hol dir eine neue Brille.«
»Hab ich schon, es nützt nichts! Es ist, als hätte ich Sand in den Augen.«
Ich hatte niemanden angerufen. Wen sollte ich auch. Mein Blick schweifte über die Namen in meinem alten Telefonverzeichnis. In den sieben Tagen griff ich nur einmal zum Telefon, wählte die Nummer einer alten Freundin, legte aber, ohne ihre Stimme abzuwarten, erleichtert wieder auf.
Ich dachte darüber nach, wie Mutter ihr Territorium verteidigt. Am wichtigsten ist ihr, dass der Fleck an der Badezimmerdecke verschwindet, dass die Wasserhähne nicht tropfen, dass die Gardinen sauber gewaschen sind, dass das Leben in geordneten Bahnen verläuft. Sie ist eine Kämpfernatur und hat ihren Feind gefunden, den »Zucker«. Anderen verwehrt sie den Zutritt zu ihrem Territorium. Schwach geworden, würde sie ohnehin den Kampf mit ihnen verlieren. Sie steckt ihre Koordinaten ab und ist auf ihrem Gebiet die absolute Herrscherin.
In der Vitrine in ihrem Wohnzimmer steht ein Foto von Goran und mir. Mutters Sammlung unterscheidet sich nicht wesentlich von denen der Emigranten. Deren zur Schau gestellte Souvenirs drücken nicht Nostalgie nach dem früheren Leben, Sehnsucht nach der »Heimat« aus. Im Gegenteil: Sie bekunden das Fehlen jeder Sehnsucht. All jene Lebkuchenherzen und Bildchen, Aschenbecher in Form von Opanken,montenegrinische, likanische, dalmatinische Miniaturkappen, Handstickereien und Spitzen, mit Leder bezogene Flachmänner und Adriamuscheln sind winzige Denkmäler auf kleinen Hausfriedhöfen, die besagen: Die Akte des Lebens ist geschlossen, die Wahl getroffen, der Verlust verschmerzt.
Ich war nicht sicher, ob ich meinen Verlust verschmerzt hatte. Fest stand nur, dass ich in den sieben Tagen ein permanentes Unwohlsein verspürte, nicht bei meiner Mutter, sondern draußen, auf der Straße. Ich ging durch Zagreb mit der unsichtbaren Ohrfeige im Gesicht und dem
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