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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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Für Sie war der Krieg erst gestern, stimmt’s?«
    »Dummes Zeug! Natürlich war er gestern! Und er ist auch heute noch nicht zu Ende!«, brauste ich auf.
    »Aber nicht für die Menschen, die daheim geblieben sind! Für die ist, was Sie für ›Gestern‹ halten, ferne Vergangenheit. Wissen Sie noch, wie die kroatischen Emigranten Anfang der neunziger Jahre aus Kanada, Australien, Westeuropa, Südamerika nach Kroatien strömten? Entsinnen Sie sich all jener zornigen Kroaten – Halbkriminelle, Legionäre, gedungene Mörder, Versager –, die von Tudjmans Schalmeien angelockt worden waren?«
    »Sie sahen aus, als wären sie einem provinziellen Heimatmuseum entsprungen.«
    »Genau. Wahrscheinlich kommen auch wir in ein paar Jahren den Daheimgebliebenen so vor. Deshalb müssen wir schleunigst alles vergessen.«
    »Und wer soll dann die Erinnerung bewahren?«
    »Wozu haben die Menschen denn die symbolischen Surrogate erfunden? Damit jemand an ihrer statt leidet und sich erinnert.«
    »So schlimm wird es doch nicht sein …«
    »Unsere Ansichten interessieren niemanden, nicht einmal die Zahlen sprechen für uns. Was wir für die große Sintflut halten, ist für die anderen ein kleiner Zwischenfall. Hunderttausende von Toten, eine oder zwei Millionen Vertriebene, all das Niedergebrannte, Zerstörte, Geplünderte – alles nur Peanuts. Bei Flutkatastrophen in Indien gehen mehr Menschen hops!«
    »Sie sind verrückt.«
    »Die Menschen sind nicht fürs Unglück geschaffen. Sie sind unfähig, sich mit großen Katastrophen zu identifizieren, sich länger mit einem Unglück zu befassen, selbst wenn es das eigene ist. Deshalb haben sie die Institution des Surrogats erfunden.«
    »Ich verstehe wirklich nicht, wovon Sie reden!«
    »Für die meisten Menschen ist der Tod von Elvis Presley schlimmer als die Zerstörung der Bibliothek in Sarajevo oder die Ermordung der Moslems in Srebrenica. Ich versichere Ihnen, das Unglück ist lästig.«
    »Furchtbar.«
    »Wenn ich Ihnen jetzt was vorjammerte, würden Sie mich schnellstens loswerden wollen.«
    »Mag sein.«
    In dem Augenblick wurde die Landung angekündigt.
    »Na sehen Sie, Sie haben Glück«, sagte der Mann und lachte herzlich.
    Am wohlsten fühle ich mich im Holländischen
, hatte Nevena gesagt, als ginge es um einen Schlafsack und nicht um eine Sprache.
    »Am wohlsten fühle ich mich in der Luft«, sagte ich. Der Mann neben mir überhörte das, als hätte ich eine unpassende Bemerkung gemacht.

    Die Luft war kristallklar, der Himmel blau, die Sonne strahlte. Der Boden unter uns, aufgeteilt in schmale, regelmäßige schneebedeckte Flächen, mutete wie dünnes jüdisches Matzenbrot an. Holland sah aus wie Malewitschs
Weißes Quadrat
in Zehntausenden billigen Kopien. Mir fiel ein, dass in meinem Kopf kein Bild Zagrebs hängen geblieben war. Ich versuchte, Bilder zu beschwören, aber nur wenige kamen, seltsamerweise in Schwarzweiß. Mein Unterbewusstsein hatte, wer weiß, warum, die Dateien umsortiert und Zagreb in die Zeit vor dem Farbfilm verschoben.
    »Sagen Sie«, wandte ich mich plötzlich an meinen Nebenmann. »Gibt es noch das ›Varteks‹-Geschäft auf dem Platz der Republik?«
    »Sie meinen, auf dem Ban-Jelaćić-Platz«, korrigierte er mich.
    »Egal.«
    »Nun … Ich weiß es nicht.«
    »Gestern war ich dort, aber ich kann mich nicht erinnern, das Geschäft gesehen zu haben.«
    »Ich bin eigentlich nie zu ›Varteks‹ gegangen. Aber warum beschäftigt Sie das?«
    »Es beschäftigt mich eben«, sagte ich.

Dritter Teil

1.
Eine Granate fiel genau
zwischen Bata und seinen Vater.

Der Vater verlor beide Hände,
für Bata war es das bittere Ende.

Batas Reste suchten sie auf der Flur,
verfluchten Gott dabei auf ewig,
denn übrig geblieben war herzlich wenig,
ein Turnschuh und ein Ohrläppchen nur.
    Neno Mujčinović

    Zurück in Amsterdam, ging ich am nächsten Tag zum slawistischen Seminar, um zu sehen, was es Neues gab. In der Woche darauf sollten die Vorlesungen beginnen.
    »Man erzählt, einer Ihrer Studenten habe sich das Leben genommen«, sagte die Abteilungssekretärin emotionslos, als teile sie mir eine Änderung des Stundenplans mit.
    »Was sagen Sie da?!«, stieß ich hervor.
    »Das habe ich gehört.«
    »Wer hat sich das Leben genommen?«
    »Keine Ahnung.«
    Die Sekretärin antwortete unwillig. Am liebsten hätte ich sie erwürgt.
    »Von wem haben Sie das gehört?«
    »Eine Ihrer Studentinnen hat es vorhin gesagt.«
    Ich stürmte die Treppe hinunter zum Café

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