Das Mysterium: Roman
Heuschober passierten, sagte er: »Wollen
wir reingehen und uns aufwärmen?«
Seine Stimme klang merkwürdig. Sie schluckte. Furcht kroch an ihr hinauf. Was war mit ihm los? Ruhig! schalt sie sich. Er
sorgt für dich, er will nicht, daß du frierst, das ist doch ein Zeichen seiner Zuneigung.
Sie traten zwischen die Heuhaufen. Das Heu roch säuerlich. Trotz der Ritzen in den Bretterwänden hielt der Schober den kalten
Wind ab. Hier drin erst merkte sie, wie kalt es draußen gewesen war. »Da hinauf?« sagte sie. Ohne auf Antwort zu warten, ließ
sie Nemo los und kletterte die Leiter hoch. Oben war es sogar noch ein wenig wärmer. Unter ihren Füßen knisterte das Heu.
Sie stützte sich an der Dachschräge ab und lief geduckt zur Stirnseite des Schobers. Dort stieß sie eine Luke auf, um Licht
einzulassen.
Zwei Hirten waren zu sehen mit ihren Schafen. Die Herden vermischten sich am Berghang, und während die Tiere grasten, plauderten
die Hirten, auf ihre Krummstäbe gestützt. Dicke, schwere Mäntel schützten sie vor der Kälte. Vor den Mündern der Hirten standen
Dampfwolken.
Es raschelte hinter ihr. Sie drehte sich um. Nemo sah sie an. Sein Blick war nicht mehr ruhig und selbstsicher, er war schwer
von Leid.
|225| Sie fragte: »Was ist mit dir? Du sagst gar nichts, und du siehst unglücklich aus.«
»Adeline«, sagte er. »Ich habe dich immer bewundert. Ich habe dich beobachtet vom Fenster des Jägers aus. Ich wollte mit dir
sprechen und … dein sein.«
Mit allem hätte sie gerechnet, nicht aber mit einem Liebesgeständnis. Ihr wurde warm in der Brust. Beobachtet hatte er sie?
Er hatte sie schon geliebt, bevor sie ihn überhaupt kannte? »Aber das ist doch kein Grund, traurig zu sein. Wir sind hier,
Nemo! Wir sind beieinander. Und mir gefällt es auch.«
»Ich weiß nicht. Ist es wirklich so?«
»Du kannst mir glauben.« Sie lächelte.
Er lächelte nicht zurück. Seine geduckte Haltung ließ ihn erscheinen, als erwarte er einen Schlag, eine Verletzung.
Warum glaubte er ihr nicht? Sie trat auf ihn zu und hob die Hand zu seinem Gesicht, streichelte über die Wange. Bartstoppeln
knisterten. Er sollte nicht so traurig dreinblicken.
Plötzlich zog er sie an sich und küßte sie. Wie ein Ertrinkender küßte er sie, küßte, küßte. Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen,
umfaßte ihren Kopf, umarmte sie, küßte sie erneut. Lange hielt er seine Lippen auf den ihren.
Sie schob die Angst weit fort und ließ sich in seine Arme fallen. Sie küßte ihn zurück – das erstemal, daß sie mit Hingabe
jemanden küßte. Auf den Lippen kribbelte es und fuhr von dort bis in die Zehenspitzen. Sie wollte mehr von ihm spüren als
nur seine Hände auf ihrem Rücken; ein ungekanntes Bedürfnis. Sie umschlang ihn und zog ihn an sich.
Er wehrte sich. Taumelte zurück. Wie ein Betrunkener fiel er ins Heu. Er zog die Knie an sich, umklammerte sie mit den Armen.
Er zitterte und weinte.
Nemo spürte jeden Muskel im Körper, alles war verkrampft. Sie liebte ihn nicht! Sie küßte ihn, weil William Ockham es ihr
befohlen hatte. Sie küßte ihn, weil er schwach war und ihr ergeben und wehrlos. Wie konnte es derart überzeugend wirken, während
es das Schaustück einer Lügnerin war!
|226| Sie wirkte wie das unschuldigste Geschöpf, das er je gesehen hatte. Aber gerade diese scheinbare Unschuld verriet ihre Kunst.
Sein Herz sagte ihm, daß sie keine Hexe war, daß sie liebenswert und gütig und warmherzig war. Sein eigenes Herz log ihn an.
Amiel hatte recht. Es war ein böser Zauber. Was sollte eine begehrenswerte junge Frau wie sie an ihm finden? Sie war klug,
sie war wunderschön, sie hatte eine Anstellung am Kaiserhof, sie konnte jeden haben! Nemo, der Taugenichts, war nur ein Spielzeug
für sie.
Wie sie da stand! Die Augen voller Unverständnis und Erschrecken, die Brauen mitfühlend emporgezogen. Er senkte die Augenlider,
um sie nicht sehen zu müssen. Er konnte nicht einmal sagen, ob er sie hatte halten oder vertreiben wollen, als er sie küßte.
War die Wahrheit nicht noch bitterer? Er konnte es nicht ertragen, daß Adeline ihn ertrug. Diese Verdächtigungen, ob sie ihn
wahrhaftig liebte, bedeuteten sie nicht eine Flucht vor ihrer Liebe? Er war so anders als sie. Adeline war nicht innerlich
zerrissen wie er. Sie war glücklich aufgewachsen, mit einer Familie. Sie führte ein sauberes, gutes Leben.
Deshalb liebte er sie. Er wünschte sich, von ihr anerkannt zu sein,
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