Das Nazaret-Projekt
wenig, verehrte Schwester!«, sagte er dann plötzlich freundlich in die entstandene Stille hinein, gerade so, als habe er soeben all ihre abschätzigen Gedanken lesen können.
»Sparen Sie sich Ihren Zynismus und ihren Atem, mein Herr! Sagen Sie mir lieber kurz und verständlich, was Sie hier wollen! Sie haben unsere heilige Andacht gestört, und dafür haben Sie hoffentlich einen triftigen Grund, oder etwa nicht? Klosterbesichtigungen finden hier nämlich absolut keine statt!«
»Verzeihen Sie, Schwester Oberin!« Nathan schob sich mit diesen Worten aus dem Schatten einer Säule in den besser beleuchteten Vordergrund. »Ich nehme an, dass es Ihnen entgangen ist, aber ich bin’s, Nathan Brock! Wir bitten dringend um die Erlaubnis, mit Ihrer Novizin Schwester Marie-Claire zu sprechen. Es ist äußerst wichtig, verstehen Sie?«
Der Gesichtsausdruck der Oberin wurde aber nur unwesentlich freundlicher. Immerhin verzichtete sie nun darauf, ihre Arme weiterhin wie ein Kapo in ihre knochigen Hüften zu stemmen. Wie in leiser, bitterer Resignation ließ sie ihre von braunen Altersflecken übersäten Hände nur sehr zögerlich sinken.
»Großmeister Brock, tatsächlich. Ach ja, und Meister Hieronymus, der unverbesserliche Spiritist und Häretiker! Und wer ist der geheimnisvolle Dritte in diesem Triumvirat, das uns zu so später Stunde noch die Ehre gibt? Ich bitte um Verzeihung, aber Sie kennen unsere Regeln und Bedingungen! Höchstens einer von Ihnen darf diese Räume hier für kurze Zeit betreten und er muss außerdem die ständige Begleitung durch zwei unserer Ordensschwestern akzeptieren, eine Ausnahme ist völlig undenkbar!«
Diese Frau schien nur aus Tadel, Strenge und Argwohn zu bestehen, deren wesenhafte Eigenschaften sich dauerhaft und formal vollendet in den Gesichtszügen der Nonne manifestiert hatten. Die für einen freundlichen oder gar freudigen Ausdruck erforderlichen mimischen Muskeln waren vermutlich bereits restlos atrophiert. Telly betrachtete dieses harte Frauenantlitz durchaus mit einer gewissen Faszination und auch Hieronymus zeigte sich offensichtlich ähnlich beeindruckt. Wieder ergriff Brock das Wort.
»Nun, verehrte Schwester Oberin, leider konnten Sie ja heute Abend meiner Einladung zur Versammlung des inneren Kreises nicht folgen und deshalb gab es noch keine Gelegenheit, Sie mit Reverend Suntide bekannt zu machen. Er ist nicht nur katholischer Priester und einer der wortgewaltigsten und beliebtesten Prediger in den Vereinigten Staaten, sondern bekleidet den Rang des höchsten Großmeisters der geheimen St. Georgs-Loge in Kalifornien, die ebenso wie unsere Tafelrunde der wertvollen Tradition des Ordens der Tempelritter verpflichtet ist! Es wird die äußerst wichtige Aufgabe des verehrten Reverend sein – sobald er sich von der Notwendigkeit seiner Mitwirkung überzeugt haben wird – den Menschen in Amerika die freudige Botschaft von der baldigen Rückkehr des Menschensohnes zu überbringen und sie auf die Wiederherstellung der göttlichen Ordnung in dieser Welt vorzubereiten. Um die Wahrheit mit ganzer Überzeugung verkünden zu können, muss er sie natürlich kennen, er muss das Wunder und Mysterium mit Leib und Seele selbst erfahren, sofern ihm der Erlöser diese Gunst und außerordentliche Gnade überhaupt gewähren mag. Natürlich halten wir uns an die Regeln Eures Konvents – Mister Suntide wird das Exerzitium selbstverständlich alleine betreten!«
Telly erschrak bei diesen Worten fast ein wenig, denn ihm stellte sich plötzlich die Frage, was wohl im als sicher anzunehmenden Falle des Nichtgewährens besagter göttlicher Gunst an Konsequenzen für seine Person zu erwarten wären. Erfahrung mit Wundern besaß er zwar keine, dafür aber ausreichend Menschenkenntnis und Fantasie, um sich lebhaft vorstellen zu können, dass für den Machtmenschen und neuerdings besessenen Visionär Nathan Brock ein Menschenleben unter gewissen Umständen wenig bis gar keine Bedeutung haben würde.
Aber was – in aller Welt – hätte er denn überhaupt zu befürchten? Im schlimmsten Falle würde man ihn wohl einfach solange hier auf ›Nazaret‹ festhalten, bis die Geheimhaltung des Standortes der Bohrinsel obsolet geworden sein würde; entweder weil Brock samt Jesusklon und Kreuzrittern in absehbarer Zeit sowieso an die Öffentlichkeit treten würde oder aber zwangsläufig den wohl eher zu erwartenden vollständigen Fehlschlag seines phantastischen Projektes eingestehen müsste! Also immer
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