Das Nazaret-Projekt
Posaune.
»ICH BIN DAS A UND O, DER ERSTE UND DER LETZTE, UND WAS DU SIEHST SOLLST DU VERKÜNDEN DEN GEMEINDEN IN AMERIKA; DENEN IN CHICAGO UND LOS ANGELES, IN NEW YORK UND ATLANTA, IN BOSTON, WASHINGTON UND SALTLAKE CITY!«
Telly wandte sich, um zu sehen, wer da mit ihm sprach. Hoch hinter sich sah er sieben goldene Leuchter unter den Bögen des Gewölbes schweben. Darunter die wunderschöne Gestalt eines Menschensohnes in langen, fließenden Gewändern, um dessen mächtige Brust sich ein goldener Gürtel spannte. Langes, weißes Haar umrahmte sein Gesicht wie eine Wolke von Schnee und die Augen darin versprühten ein Licht wie Feuer. Die nackten Füße der Gestalt erschienen wie aus glühendem Messing und in ihrer rechten Hand hielt sie sieben geheimnisvoll leuchtende Sterne. Das ganze Antlitz strahlte wie die Sonne und aus dem Munde schoss wie ein Laserstrahl ein scharfes, zweischneidiges Schwert hervor.
Telly Suntide kippte hilflos und völlig überwältigt an Körper und Geist langsam seitwärts aus dem Betgestühl und stürzte wie gelähmt zu Boden.
Die Gestalt legte sogleich ihre Hand auf ihn und sprach:
»FÜRCHTE DICH NICHT! ICH BIN DER ERSTE UND DER LETZTE UND DER LEBENDIGE; ICH WAR TOT UND SIEHE, ICH BIN LEBENDIG VON EWIGKEIT ZU EWIGKEIT UND BESITZE DIE SCHLÜSSEL DER HÖLLE UND DES TODES! VERKÜNDE, WAS DU GESEHEN HAST UND WAS DA IST UND WAS GESCHEHEN SOLL DANACH. HIER IST DAS GEHEIMNIS DER SIEBEN GOLDENEN LEUCHTER UND DER SIEBEN STERNE IN MEINER HAND: DIE SIEBEN STERNE SIND ENGEL DER SIEBEN GEMEINDEN UND DIE SIEBEN LEUCHTER SIND DIE SIEBEN GEMEINDEN!«
Dann verblasste die Erscheinung und eine große Stille kehrte ein. Die Starre in Tellys Körper löste sich und gleichzeitig verspürte er etwas Befremdliches, aber Erlösendes; es fühlte sich an, als würde jemand endlich jene Hand aus seinem Schädel nehmen, die mit schmerzhaftem Griff sein Gehirn die ganze Zeit umfasst gehalten hatte. Die Entspannung kam so unerwartet und vollständig, dass der Reverend für die Dauer einiger Sekunden in gnädige Ohnmacht fiel.
Als er wieder zu sich kam und die Augen öffnete, blickte er direkt in die ovalen Gesichter der beiden Nonnen, die sich besorgt über ihn beugten. Zum ersten Mal fanden dabei deren blasse und strenge Züge einen freundlichen und versöhnlichen Ausdruck.
Der Stuhl, auf dem die heilige Jungfrau gesessen hatte, war wieder verwaist. Nur die beiden Kerzen flackerten noch unruhig im Luftzug und rußten dabei ein wenig.
Die Erben des Herodes
Über der spätherbstlichen Lagune von Venedig, die seit dem Schildbürgerstreich ihrer vermeintlich schützenden Abtrennung vom adriatischen Meer durch gewaltige Dämme und Schleusentore zunehmend wie eine alte Vettel oder eine verkommene, ungewaschene Hure höchst unappetitlich zu riechen begonnen hatte, zog dichter, grauer Nebel auf. Träge und bedrohlich wie eine Giftgaswolke wälzte er sich durch Kanäle, Gassen und Schluchten der versinkenden Stadt, verschleierte die feuchten Fassaden und Konturen der Häuser und Palazzi mit schmutzigen Leichentüchern und erstickte Brücken und Stege in grauer, schalldämmender und lichtabsorbierender Watte. Der Schwärze des lebensfeindlichen, reglosen Wassers in den Kanälen entwuchsen bald nur noch rätselhafte Fragmente aus feuchtem Stein; Fundamente und Torsi geheimnisvoller Stufen, Mauern und Aufgänge, ihrer Bestimmung und jeder architektonischen Logik beraubt, ähnlich den Treppenfluchten in einer berühmten Grafik von C.M. Escher. Die Luft war kalt und klamm und roch streng nach Moder, Seetang, Dieselöl und menschlichen Fäkalien.
In dieser Stadt wurden keine Kinder mehr geboren und in dieser Stadt wohnte auch niemand mehr, der Kinder ernsthaft vermisst hätte. Nur die Tauben und der Nebel dort vermehrten sich unaufhörlich. Und natürlich die bunten Horden von trampelnden Touristen, deren Lärm, Farben und Geplapper umgehend vom Nebel und den Taubenschwärmen verschlungen und verdaut wurden, um dann neuerlich als zähflüssige, bleierne Totenstille über den morschen Dächern der Kulissenstadt wieder ausgeschieden zu werden.
Rechtsanwalt Pietro DiSalvo war alles andere als hoch erfreut darüber gewesen, ausgerechnet diese Stadt zu dieser Jahreszeit besuchen zu müssen. In einem so wunderschönen und vielgestaltigen Land wie Italien hätte sich selbst im November leicht ein wärmeres und angenehmeres Plätzchen für ein konspiratives Treffen finden lassen. Leider war sein augenblicklich wertvollster
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