Das Nazaret-Projekt
Informant nicht nur alt und steif in den Gelenken, sondern besaß auch ein unerfreuliches Maß an Missmut und Altersstarrsinn, dem offenbar jegliche Reiselust oder Bereitschaft zur Mobilität zum Opfer gefallen war. Der alte Bursche war jedoch immer noch ein hochrangiges, aktives Mitglied einer geheimen Unterorganisation des Malteserordens und irgendwie auch mit der als christlich-fundamental orientierten P3-Loge verbandelt.
DiSalvo konnte nicht verstehen, warum die führenden Köpfe der meisten heimlichen Logen-, Ordens- und Ritterbündler stets eine ausgeprägte Affinität zu antikem, geschichtsträchtigem Gemäuer mit finsterer und morbider Atmosphäre zu besitzen schienen. Vielleicht war es das unbewusste oder falsch interpretierte Erbe der ursprünglichen Freimaurer, in deren Tradition der behauene Steinquader nicht nur das bevorzugte Material der großen Baumeister gewesen war, sondern auch ein esoterisches Symbol mit zahlreichen Bedeutungsebenen? Über Geheimbünde jedweder Couleur wusste er zwar nur sehr wenig, aber nach seiner Lebenserfahrung war allein schon diese Bezeichnung ein Witz; als Rechtsanwalt und diskreter Mittler zwischen den Mächtigen Italiens war er vor allem deshalb steinreich und unbehelligt älter geworden, weil er schon in jungen Jahren verstanden hatte, dass ein Geheimnis eine Substanz ist, die sich unter keinen Umständen ohne negative Konsequenzen teilen oder gar verdünnen lässt.
Der schon etwas gebeugte und unter beginnendem Verlust seines Selbstwertgefühls leidende Monsignore war für einen abgebrühten Schauspieler wie DiSalvo natürlich leichte Beute gewesen.
Er hatte zunächst in bester, alter Mafia-Tradition seinen tiefsten und gehorsamsten Respekt bezeugt, den zunehmenden Verfall von Moral, Glaube, Ehre und Respekt vor allem der jüngeren Generationen beklagt und dann fiktiven, guten, alten Zeiten nachgetrauert. Dann hatte er nachdrücklich den alten Geier dessen ungebrochener Autorität und Wichtigkeit versichert, besonders in diesen dunklen Zeiten fehlender, lebendiger Vorbilder. Deutlich bekümmert hatte er anschließend von dem zermürbenden Wechselbad aus himmelfahrenden Hoffnungen und finstersten Zweifeln gesprochen, dem er seit dieser ominösen Ankündigung der angeblichen Wiederkehr des Erlösers unterworfen war. Leise und traurig war dann dem mittlerweile sichtlich lebendiger gewordenen Greis der innigste Wunsch offenbart worden, sich ganz und gar in den Dienst dieser höchsten Sache stellen zu wollen, wenn sich nur die Zweifel an deren Wahrheit beseitigen ließen. Mit einem resignierten Seufzer hatte er nach einer kurzen Pause zuletzt noch beiläufig den offensichtlichen Mangel an kompetenten Entscheidungsträgern und Wissenden innerhalb des Kreises der christlichen, hermetischen Traditionen beklagt.
»Sagen Sie selbst, Monsignore, wo ist er nur geblieben, der wahrhaft christliche Geist der Kreuzfahrer?«
Die Stimme des Dottore bebte dabei deutlich vor verhaltener Bitternis und Trauer über diesen unersetzlichen Verlust.
Natürlich war der Monsignore außerstande gewesen, diese Frage vollständig zu beantworten, aber dafür hatte er dieser vielleicht letzten Gelegenheit nicht widerstehen können, sich als einen der wenigen großen Wissenden unter den Logenmeistern zu erkennen zu geben.
So war es gekommen, dass Pietro DiSalvo ohne große Anstrengung oder Investition erstaunlich schnell die wichtigste aller benötigten Informationen erlangt hatte, nämlich die Identität jener Person, die mit großer Wahrscheinlichkeit als Initiator des absurden Projektes in Frage kam. Die Jagd konnte eröffnet werden! Von nun an würden auch andere Spezialisten die Fährte des Wildes aufnehmen.
Hoch zufrieden und leise fröstelnd begab sich der Commendatore DiPietro eiligst zurück in das vornehme Hotel am Canale Grande, wo er zunächst von seiner Suite aus mehrere kurze Ferngespräche führte und einen Flug nach Rom für den nächsten Morgen buchte, bevor er sich auf den Weg ins Restaurant zum Abendessen machte. In der Lobby der Nobelherberge lagen stets die neuesten Ausgaben der wichtigsten Tageszeitungen aus, und der Anwalt griff sich den ›Corriere della Sera‹ zur späteren Lektüre. Er war schon längst bei Dolci und Espresso angelangt, da sprang ihm unvermittelt die Überschrift einer Meldung auf der ersten Seite ins Auge:
Leichentuch von Turin wieder aufgetaucht!
Im Hafen von Genua wurde heute in den frühen Morgenstunden überraschend ein Container aufgefunden,
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