Das Nazaret-Projekt
Spiegel-Rückwand des Getränkeregals bequem im Auge behalten konnte.
Die sechs Kerle gehörten mit Sicherheit einer besonderen Spezies an, die ihm bestens vertraut war. Muskulöse, durchtrainierte Gestalten, katzenhaft geschmeidige Bewegungen; unverkennbar dieses nervöse Sichern nach allen Seiten, das vollständige Erfassen der räumlichen Gegebenheiten, das schnelle Mustern aller anwesenden Personen – wenn das keine Angehörigen einer speziell trainierten Einsatztruppe waren, dann würde er auf der Stelle seinen geliebten amerikanischen Hut fressen!
Söldner? Drogenfahnder? Geheimdienstleute?
Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Von irgendwo her kannte er doch diese markanten Gesichtszüge eines dieser Burschen, der scheinbar auch der Anführer dieses Fähnleins war. Natürlich, das war doch … wie hieß denn der Kerl gleich wieder? Ein Deutscher … genau! Das ist Skip Jablonsky, kein Zweifel! Ein ehemaliger Kommandant der deutschen GSG-9, der legendären Grenzschutz- und Eingreiftruppe! Nick war stolz auf sein Gedächtnis.
Seltsam, was hatte so eine hochkarätige Truppe ausgerechnet hier im Hafen von Genua zu suchen? Dann kam ihm diese obskure Leichentuchgeschichte in den Sinn und er war sofort wie elektrisiert! Dieser Diebstahl war das Werk von unbekannten Profis gewesen und sein Instinkt sagte ihm, dass ihm eben jenes Spezialisten-Team durch Zufall über den Weg gelaufen ist!
Nick Valetta fasste sofort den Entschluss, die Jungs und vor allem Jablonsky ein wenig länger im Auge zu behalten. Er bezahlte, klemmte sich die Tageszeitung unter den Arm und verließ mit dem leicht unsicheren Schritt eines mäßig Angetrunkenen ohne jede Eile das verräucherte Lokal.
Schräg gegenüber, auf dem schlecht beleuchteten Gelände einer Schrottfirma, suchte er sich ein Versteck, von dem aus die Cafeteria gut zu beobachten war. Dann setzte er sich, schaltete sein Handy aus, schob den Hut ins Genick und wartete.
Seine Geduld wurde gar nicht lange auf die Probe gestellt, denn schon nach einer knappen halben Stunde erschienen die Männer und machten sich zu Fuß auf den Weg durch das Hafengelände, vorbei an Lagerhallen, hell erleuchteten Kontoren, Lastwagen mit Containern, vorbei an grell geschminkten und blondierten Huren in verwegenen Stilettos und getigerten Tangas und jungen, cracksüchtigen Stricher-Zombies.
Nick folgte der Gang in gebührendem Abstand, wobei er sich so unsichtbar wie nur möglich machte. Er nahm sogar seinen geliebten, aber unter diesen Umständen vielleicht doch auffälligen Hut ab und stopfte ihn unter die Jacke. Wer wachsame und misstrauische Profis beschatten wollte, der musste doppelt vorsichtig sein!
Bald hatten sie die betriebsamen Kais des Verlade- und Fährhafens passiert und Jablonsky marschierte mit seinen Jungs nun zügig die Zufahrtsstraße zum Jachthafen hinunter. Das Gelände war weiträumig mit Maschendraht umzäunt, das einzige Tor hellerleuchtet und natürlich bewacht. Nick schlug sich deshalb kurz entschlossen seitwärts in die Büsche und kletterte flink und behände wie ein Eichhörnchen über den nur mäßig gesicherten Zaun. Es wäre zwar nun naheliegend gewesen, den gut beleuchteten Parkplatz geduckt und Deckung suchend im Schatten der zahlreichen Fahrzeuge zu überqueren, aber Nick wollte keine unliebsame Überraschung erleben, weil ihn jemand fatalerweise für einen Autoknacker halten könnte. Nah am Zaun entdeckte er zu seinem Glück einen rostigen Einkaufswagen, der mit Müll und leeren Schachteln beladen war. Valetta schnappte sich das protestierend quietschende und eiernde Ding, schob es vergnügt pfeifend wie selbstverständlich vor sich her und überquerte so völlig unbehelligt den großen Platz. Er kam gerade noch rechtzeitig an den Piers an, um zu sehen, welchen Weg Jablonskys Truppe zwischen hunderten von Booten nahm, die wie spitze Blätter an einem Ast jeweils zu beiden Seiten der zahlreichen Kais vertäut lagen. Schließlich enterten die Männer eine große, auffallend schöne Hochseeyacht und verschwanden unter Deck.
Valetta verbarg sich in der Dunkelheit unter einem aufgedockten, kleinen Segelboot und ließ beinahe eine ganze Stunde verstreichen, ehe er sich wie ein gedankenverlorener, nächtlicher Spaziergänger auf dem Kai so weit näherte, bis er mühelos den Namen der Yacht lesen konnte: ›ROSEBUD – TALLINN‹. Ausgeflaggt war die ›Rosebud‹ allerdings mit einem deutschen Wimpel. An Bord war alles ruhig und dunkel und
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