Das Nazaret-Projekt
ohne zu stolpern durch die Arena, nahm die furchterregend aussehende Waffe von den Schultern, klappte das massive Dreibein auf und wuchtete sie auf das Podest. Behände sprang er dann hinauf und schob einen Patronengurt in das Maschinengewehr. Die Drehscheibe begann wieder zügig zu rotieren.
Der Clown, dessen Gestalt jetzt irgendwie größer und massiger wirkte in seiner neuesten Verkleidung, stieß plötzlich seine linke Faust in die Luft und brüllte aus vollem Halse: »ALLAH-HU-AKHBAR!!!«
Die erste Salve von Explosivgeschossen verließ den Lauf des schweren Maschinengewehrs russischer Bauart und zerfetzte die Leiber der Zuschauer in den unteren Rängen, die gar nicht richtig mitbekamen, wie ihnen geschah und deshalb das zweifelhafte Glück hatten, wenigstens mit einem Lächeln auf den Lippen zu sterben.
Mit jeder Umdrehung des Podestes hielt der Schütze ein wenig höher, während er ungerührt solange Dauerfeuer gab, bis er den Patronengurt austauschen musste. Erst dann reagierten die ersten Sicherheitskräfte und eröffneten das Feuer auf den Attentäter, der seelenruhig sein zweites Magazin leerte, indem er ausgiebig auf die Prominentenloge feuerte. Magda Brock, die aufgesprungen war und sich schützend über ihre kleine Tochter geworfen hatte, wurde von zahlreichen Geschossen getroffen; eines davon schlug in ihren Schädel ein, der wie eine Melone zerplatzte.
Plötzlich erstarb das dumpfe Hämmern der automatischen Waffe, die zwar als robust und zuverlässig bekannt, aber deshalb keineswegs vor den gefürchteten Ladehemmungen gefeit war. Auch die Security-Leute hatten entweder Ladehemmung oder ihre Magazine bereits leer geschossen, ohne jedoch den Terroristen getroffen zu haben. Mit einem Mal war das Stöhnen, Schreien und Jammern der ungezählten Verletzten zu hören.
Der eiskalte Attentäter gab dem Maschinengewehr einen verächtlichen Tritt, brüllte noch einmal »Allah-hu-akhbar«, sprang vom Podest, rannte durch die Arena und verschwand durch den Vorhang.
Die Überlebenden waren zunächst starr vor Entsetzen. Die einzigen, die scheinbar unbeeindruckt blieben, waren die Kameramänner der verschiedenen Fernsehsender, die keine Sekunde lang das Auge von ihren Okularen nahmen und jede Einzelheit weiterhin aufzeichneten. Dann stürzten endlich die aufgeregten Sicherheitsbeamten in die Manege, um die Verfolgung des Terroristen aufzunehmen. Im selben Augenblick wurde der blaue Samtvorhang, hinter dem der Attentäter verschwunden war, mit enormer Kraft brutal zur Seite gefetzt. Laut brüllend, tief geduckt und mit langen Sätzen fegte ein hungriges Rudel sibirischer Königstiger in die Manege, wo es so wunderbar aufregend und betörend nach Blut und Angst roch.
Halali
Nick Valetta hatte seinen speckigen Dashiel-Hammet-Hut gegen einen altmodi schen Sturzhelm aus Aluminium getauscht und sich Goggles – eine antiquarische Fliegerbrille mit Gummizug – auf die Nase gesetzt. Wie es sich für den wackeren Chauffeur eines echten Oldtimers geziemt, kämpfte er dann solange mit den schweißtreibenden Tücken des Kickstarters an seinem perfekt und liebevoll restaurierten Klassiker, einer silberfarbenen Vespa GS, bis der alte Zweitaktmotor endlich den hartnäckigen Zündfunken akzeptierte und zögerlich hustend zu atmen begann. Eine blaugraue, bleigesättigte und stinkende Abgaswolke begann den Fahrer und seinen Roller zu umhüllen, die sich erst verflüchtigte, als der Vespa-Motor mit charakteristischem Bollern einigermaßen rund lief und willig dem Gasdrehgriff gehorchte.
Mit der Würde und dem Aussehen eines Mannes, dessen Ahnenreihe mindestens Don Quichote de la Mancha, Gottlieb Benz und Quax den Bruchpiloten einschließt, machte sich Nick mit seiner knatternden Piaggio auf den Weg in seine bescheidene Wohnung in der Altstadt von Genua.
Er nahm als erstes eine Dusche, zog frische Kleidung an und begann dann mit ruhiger Routine und Sorgfalt eine Reisetasche zu packen. Danach folgte ein lustvoll zelebriertes Ritual, das Nick bei all seinen Aktionen stets am meisten Freude bereitete – die kunstvolle Verwandlung seines Äußeren am Schminktisch. Er liebte Rollenspiele, die er als psychologische Abenteuer erlebte, die Wirkung des Scheins der Wirklichkeit in der scheinbaren Wirklichkeit faszinierte ihn über alle Maßen.
Nick besaß die wache Sensibilität eines sogenannten ›echten Künstlers‹, die gemeinhin fälschlich als Intuition oder gar Inspiration bezeichnet wird – in Wahrheit aber nur ein
Weitere Kostenlose Bücher