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Das Nazaret-Projekt

Das Nazaret-Projekt

Titel: Das Nazaret-Projekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Hanf
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verfeinertes Erkennen als Resultat von bewusst erhöhter und vorbehaltloser, also nicht subjektiv wertender Aufmerksamkeit ist – die ihn zu der Gewissheit geführt hatte, dass die Realität ein unzuverlässiges, rätselhaftes Kontinuum sei, weil es in wunderbarer Weise wohl alles nur Denkbare enthalten konnte, alles wirklich, greifbar und begreifbar, alles, außer einem – nämlich der letzten, einzigen und absoluten Wahrheit!
    Realität, so entdeckte Nick schon in jungen Jahren, verhält sich ganz ähnlich wie ein Hologramm, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Das Hologramm ist nahezu unbegrenzt teilbar und jedes Bruchstück enthält stets das objektive Bild des Ganzen. Realität ist zwar ebenfalls vielfach teilbar, aber jedes Bruchstück enthält ein unterschiedliches, weil subjektiv entstandenes Bild. Die Anzahl möglicher Realitäten ist also unbegrenzt. Valetta begab sich damit auf philosophisches Eis, jenen mächtigen Gletscher der Rationalität, der seit Jahrtausenden die irrationale Wahrheit unter sich begraben hält und auf dem schon viele bedeutende Geister, große Denker und unerbittliche Logiker ins Rutschen geraten waren. Die Essenz seiner Erkenntnis fasste Nick – davon völlig unberührt – in einem beeindruckend kurzen, prägnanten Lehrsatz zusammen, der an Gewicht, Tiefe und geheimnisvoll unverständlicher Symbolhaftigkeit durchaus der Einstein’schen Zauberformel zur Erklärung des Unerklärlichen nahe kam.
    Vor allem zu fortgeschrittener Stunde in seiner Stammkneipe, im Kreise von Freunden und Gleichgesinnten, wenn Haschisch, Rotwein, Kokain – oder alles zusammen – den geistigen Nährboden für esoterische Kletterpflanzen und philosophische Dornengewächse aufgelockert und gedüngt haben, wenn also die Lautstärke und die Zahl der gleichzeitig Redenden zunimmt und die Thesen und Weisheiten immer abstruser und kühner werden, dann entfaltet dieses Ehrfurcht gebietende, monolithische Postulat zuverlässig wie eine deutsche Tellermine seine volle intellektuelle und spirituelle Sprengkraft.
    »Realität ist entropisch!«
    Dieses von Valetta stets mit dramatischer Stimme und Autorität vorgetragene, fundamentale, unwiderlegbare Naturgesetz sorgt durch seine zunächst unauslotbare Bedeutungstiefe meistens für Verblüffung und kurzzeitige intellektuelle Ratlosigkeit und bringt vor allem etwas Beruhigung in die Diskussion. Bei allzu weit fortgeschrittener Stunde allerdings kann die Wirkung dieser essenziellen Weisheit auf die Disputanten unkalkulierbar werden und zum Beispiel nur mehr spontane, völlig unreflektierte Zustimmung oder gar grölende Heiterkeit hervorrufen.
    Dies ist die Zeit, zu der sich Nick Valetta dann gewöhnlich damit zufrieden gibt, die dralle Kellnerin in einem vertraulichen Einzelgespräch zuerst von der ewigen Tragik seiner einsamen Dichter-Existenz zu überzeugen, um ihr dann ungeniert hinter dem Tresen genüsslich seinen steinharten, italo-amerikanischen Poeten-Schwanz möglichst tief in den einladend großen, sizilianischen Arsch zu schieben. Das ist allerdings auch nur eine von vielen Möglichkeiten, die perfekte Illusion einer handfesten Wirklichkeit aufrecht zu erhalten.
    Im Augenblick jedoch hatte Nick Valetta viel zu wenig Zeit, um sich weiter mit der Metaphysik oder gar damit zusammenhängenden, ausschweifenden sexuellen Handlungen zu befassen. Seine Aufmerksamkeit galt zunächst der Auswahl eines perfekt gefälschten Reisepasses und der zugehörigen Legende aus einem versteckten Arsenal, dann nahm er mit geschickten Händen die Verwandlung seines Äußeren in Angriff.
    Wenige Stunden später fand sich ein expeditionstauglich gekleideter und ausgerüsteter amerikanischer Ingenieur und Geologe namens Simon Phillips auf dem Flughafen von Milano ein, passierte problemlos die Pass- und Sicherheitskontrollen und begab sich unverzüglich an Bord des Airbus der Alitalia Airline, Flug Nummer 23 über München und Berlin nach Stockholm.
    Der Flug war aufgrund der Zwischenlandungen lang und ermüdend. Nick vertrieb sich die Zeit damit, dass er abwechselnd entweder schlief oder in höchster Konzentration den Kopf tief über seinen aufgeklappten Laptop beugte, ganz so, wie das zigtausende von Geschäftsleuten auf Reisen täglich zu tun pflegen. Skip Jablonsky hatte die Platznummer 66 gebucht und saß nur drei Reihen weiter schräg gegenüber, gleich am Mittelgang des geräumigen Airbus. Das bedeutete, dass ein zufälliger Augenkontakt zwischen Jäger und Gejagtem jederzeit

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