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Das Nazaret-Projekt

Das Nazaret-Projekt

Titel: Das Nazaret-Projekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Hanf
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entsprechenden Ausdruck seines bleichen Gesichtes ablesen ließ. Als erstes stiegen jähe, flammende Wut und Empörung in ihm auf wegen der gotteslästerlichen und spöttischen Worte, derer sich Hieronymus bedient hatte. Dem folgte lärmend und hoch zu Rosse der Aufzug seines tief verletzten Stolzes, der aber ebenso schnell wie spukhaft vorüberzog und einem dauerhaften Gefühl der Leere, des Zweifels und der leisen Scham den nun still gewordenen Schauplatz überließ.
    Woher nur kam die unerklärliche Macht dieses geheimnisvollen Hieronymus, mit wenigen schlichten Worten ein ganzes, kunstvoll errichtetes Glaubens-Universum zu zertrümmern? War das nicht ausschließlich eines der zahlreichen Attribute des großen Versuchers? Gleichzeitig musste er sich aber mit heimlicher Scham eingestehen, dass die bereits in seinem Herzen keimende Saat des Zweifels nicht erst durch die Hand Meyrinks gepflanzt, sondern im Lauf der letzten Jahre wie zufällig herangetragen und absichtslos verstreut worden war von wechselnden Winden und Vogelschwärmen, die frei und unberührt über den wilden Mäandern seines Lebensweges dahingezogen waren.
    »Nun«, sagte Meyrink, der angesichts der seelischen Verwirrung und Not seines potentiellen Zöglings einen ernsten, aber versöhnlichen Ton anschlug, »als Gott uns das Leben gab, hat er nie gesagt, es würde einfach sein! Mensch zu sein bedeutet, auf einem sehr schwierigen Pfad zu gehen, den man schnell aus den Augen verlieren kann. Manchmal kommt man an eine Gabelung oder Wegkreuzung, und nur wer zuhören gelernt hat und der wahren Stimme seines Herzens folgt, der wird die richtige Wahl treffen!«
    »Aber was ist die wahre Stimme des Herzens und wie soll ich lernen, sie zu hören? Ist das nicht auch die Stimme Gottes, die dann zu mir spricht? Diese Stimme, die ich schon vor zwei Tagen vernommen habe, die mir den Schlaf geraubt hat und über die Sie sich so lustig gemacht haben?«
    Hieronymus lächelte milde und schüttelte seinen Kopf. »Nein, das ist nicht die Stimme Gottes und schon gar nicht jene andere, die zu Ihnen gesprochen hat, aber das werde ich Ihnen ein anderes Mal erklären. Eines jedoch sollten Sie unbedingt verstehen: Selbst wenn er wollte, könnte sich Gott niemals dem Menschen zeigen, denn das würde bedeuten, dass er sich vor seiner eigenen Schöpfung verbirgt! Warum sollte er so etwas Merkwürdiges tun? Nein, er ist immer und in jedem Augenblick anwesend und er ist Ihnen dabei näher als Ihre Halsschlagader! Es mag seltsam in Ihren Ohren klingen, aber Gott ist tatsächlich darauf angewiesen, von den Menschen erkannt zu werden und nicht umgekehrt. Das wiederum kann aber nur geschehen, wenn das unechte Selbst des Menschen, das aus vielen gegensätzlichen Ich’s besteht, zu einem einzigen, sehr kleinen und demütigen Ich geschrumpft ist, so dass genügend Platz in seinem Herzen entstanden ist. Dies ist wahrhaft der einzige Platz der groß genug ist, Gott zu enthalten! Oder, wie mein Lehrer gelegentlich zu sagen pflegte: ›Außer der Verantwortung für seine eigenen Taten, Worte und Gedanken sollte der Mensch nichts persönlich nehmen – vor allem nicht sich selbst‹!«
    Telly Suntide hatte allerdings vorläufig nichts begriffen außer der erstaunlichen Tatsache, dass er zum ersten Mal in seinem Leben bereit war, menschliche Autorität ohne jeden Vorbehalt zu akzeptieren. Obwohl er in seiner Rolle als Prediger, Logenmeister und selbst ernannter spiritueller Lehrer auf eine lange Erfahrung im Umgang mit der menschlichen Psyche zurückblicken konnte und ein großartiger Rhetoriker und Scholastiker war, gingen ihm angesichts der unerklärlich intensiven Präsenz dieses merkwürdigen alten Mannes regelmäßig die Worte aus. Ganz abgesehen davon, dass er mit seinem üblichen Arsenal an Bibelzitaten, geflügelten Worten und schwammigen, esoterischen Begriffen bei Hieronymus Meyrink vermutlich auch nur sehr wenig Eindruck hinterlassen hätte.
    Obwohl Reverend Suntide immer noch vollständig im Banne seines überwältigenden spirituellen Erlebnisses stand, waren die quälenden Fragen dazu, die in der Folge in ihm aufgestiegen waren, denen Meyrinks immer ähnlicher geworden, allerdings ohne den spöttischen Unterton des Älteren. Telly blickte Hieronymus beinahe kummervoll an und gab sich endlich einen inneren Ruck.
    »Ihre Weisheit in allen Ehren, Bruder Meyrink, aber würden Sie mir verraten, warum Sie nie bei Schwester Marie-Claire gewesen sind? Hat man Sie abgewiesen oder ist Ihr

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