Das Nazaret-Projekt
unmissverständliche Anordnung des Allerhöchsten empfing, alle Ordensritter, Kreuzfahrer, Logenmitglieder und Nonnen noch für diesen Abend zu einem gemeinsamen Gottesdienst und Konvent im Rittersaal zusammenzurufen, wo sie dann auch direkt aus dem Munde der gebenedeiten Jungfrau die jüngste und äußerst wichtige Botschaft des noch ungeborenen Heilands vernehmen sollten.
Nathan Brocks Drehbuch zur werkgetreuen Erneuerung des zweitausend Jahre alten, biblischen Dramas des Neuen Testaments war ihm ohne sein Wissen schon in dem Augenblick aus der Hand genommen worden, als der Nonne Marie-Claire in religiöser Ekstase auf der Krankenstation des Klosters ein in solchen Dingen erfahrener Engel des Herrn erschien und ihr die traditionell unbefleckte Empfängnis angedeihen ließ. Nicht nur im Skript des Großmeisters war die Figur des Josef als Anhängsel der heiligen Maria für den Fortgang der Dramaturgie entbehrlich, ganz abgesehen davon, dass wegen der strikten, absolut männerfeindlichen Regeln des Engelswerkordens diese Rolle praktisch auch gar nicht besetzbar gewesen wäre. Der Verlust seiner Einflussnahme als Regisseur dämmerte dem Logenritter Brock, der sich von Vertrauten gern heimlich ›großer Drache‹ nennen ließ, deshalb erst im weiteren Verlaufe dieses Abends.
Zunächst jedoch hatte Nathan seinen großen Auftritt als Zeremonienmeister der Veranstaltung. Zur gewünschten Zeit versammelten sich alle Auserwählten und Initiierten des Projektes ›Nazaret‹ unter dem gläsernen Kuppeldach des geräumigen Rittersaales. Selbst Reverend Suntide und Hieronymus Meyrink mussten sich dem Wunsche des Großmeisters fügen, den weißen Ornat der Kreuzritter anzulegen und sich mit einem erstaunlich schweren und unhandlichen Schwert zu gürten, das ihrem Träger in lästiger und hinderlicher Weise beim Gehen ständig gegen die Beine schlug.
Dem Gesicht Meyrinks war keinerlei Gefühlsregung zu entnehmen, aber Telly konnte sich der Magie des feierlichen Aufzugs nicht sehr lange erfolgreich entziehen. Sein schweißglänzendes Gesicht glühte bald ganz im Bewusstsein der Besonderheit des Augenblicks und des Privilegs seiner persönlichen Berufung hierzu.
An den Wänden des achteckigen Saales loderten jeweils zwei Fackeln, die in schmiedeeisernen Haltern steckten und das Gewölbe in weiches, gelbrotes Licht tauchten. Die gewaltige runde Tafel in der Mitte des Raumes war samt den hochlehnigen, unbequemen Stühlen entfernt worden und an ihrer Stelle war nun auf dem Marmorfußboden das türkisfarbig eingelegte Mosaik eines großen Eneagramms sichtbar geworden, das zusätzlich vom Licht des Mondes und der Sterne beleuchtet wurde, das von oben herab durch die Glaskuppel in den Saal fiel und dadurch eine mystische Atmosphäre heraufbeschwor.
Schweigend und in angespannter Erwartung versammelten sich die weiß gekleideten Menschen mit ernsten Gesichtern in einem weiten Kreis um diese Mitte. Von den meisten der Anwesenden unbemerkt, war unterdessen auf der umlaufenden Balustrade unterhalb der Kuppel die tief verschleierte, kugelbäuchige Gestalt der mittlerweile hochschwangeren Schwester Marie-Claire erschienen, die als einzige Person völlig in schwarz gekleidet war. Ihr zu Seiten standen die beiden stattlichen, weiblichen Schutzengel, die auch innerhalb der Klostermauern ihre ständige Leibwache bildeten.
Es wurde nun so still im Rittersaal, dass mit einem Mal wieder jenes stets vorhandene, tieffrequente Geräusch als spürbare Vibration ins Bewusstsein dringen konnte, dessen Ursprung im unermüdlichen Ansturm der Meereswellen lag, die wütend gegen die hohlen Stahlpfeiler der Insel ›Nazaret‹ dröhnten. Dieses unterschwellige Summen und Brummen, das sich durch alle tragenden Teile der Stahlkonstruktion fortpflanzte, bildete nun den Grundakkord, über dem sich majestätisch wie eine aufsteigende Gruppe großer Wasservögel eine nach der anderen die wunderschönen, klaren Stimmen der singenden Nonnen erhoben, die schließlich in einen freudigen Choral mündeten, der die Erhabenheit des Augenblicks durch seine Emotionalität wirkungsvoll bekräftigte.
Dann trat ein Priester im prächtigen, mittelalterlichen Gewand eines Kardinals in die Mitte und führte die ergriffene Gemeinde durch die Liturgie eines kurzen, aber sehr feierlichen Gottesdienstes, der die Menschen in angemessener Weise auf die Botschaft des Gottessohnes vorbereitete.
Über dem Haupt des Kardinals schwebte dabei wie ein Heiligenschein als holografische
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