Das Opfer
»Für immer.«
Dann legte er auf.
»Aber etwas ist passiert«, vermutete ich.
»Ja«, erwiderte sie. »Etwas, das heißt, einiges ist passiert.«
Ich beobachtete ihr Gesicht und sah, dass sie um Worte rang. Sie zeigte ihren Widerwillen so, wie jemand im Winter einen warmen Pullover anzieht, um gegen den Wind und einen Kälteeinbruch gefeit zu sein.
»Und?«, fragte ich, von ihrer ausweichenden Art ein wenig gereizt. »Wie ist der Zusammenhang? Sie haben mein Interesse an der Geschichte geweckt, indem Sie gesagt haben, ich sollte mir einen Reim auf das Ganze machen. Bis jetzt bin ich nicht sicher, was ich davon halten soll. Ich sehe, was für Spielchen Michael O’Connell getrieben hat. Aber zu welchem Zweck? Ich sehe, wie ein Verbrechen Gestalt annimmt, aber was für eins?«
Sie hob die Hand, um mich zu unterbrechen.
»Sie wollen, dass die Dinge einfach sind, nicht wahr? Aber Verbrechen sind nicht so simpel. Wenn man genauer hinsieht, dann erkennt man, dass dabei viele Kräfte mitspielen. Haben Sie sich noch nie gefragt, ob wir nicht mit dazu beitragen, dass eine psychisch oder emotional belastende Atmosphäre entsteht, in der schlechte Dinge, schreckliche Dinge einen Nährboden finden, so dass sieWurzeln schlagen und sich irgendwann zu einem Alptraum auswachsen? Ob wir nicht eine Art Brutstätte für das Böse sind, jeder für sich? Sieht doch manchmal so aus, oder nicht?«
Ich antwortete nicht darauf. Stattdessen betrachtete ich sie, wie sie in ihre Tasse starrte, als wollte sie im Kaffeesatz lesen.
»Beschleicht Sie nicht auch manchmal das Gefühl, dass wir ein unglaublich diffuses, zerrissenes Leben führen? In märchenhaften, glücklicheren Zeiten, da wurde man erwachsen und blieb, wo man hingehörte. Kaufte vermutlich ein Haus in derselben Straße, wo die Eltern wohnen. Stieg ins Familienunternehmen ein. Auf die Weise waren wir alle weiter miteinander verbunden, auf derselben Wellenlänge, in derselben Umgebung. Das waren noch naive Zeiten. Wie im Fernsehen,
Die Honeymooners
und
Vater ist der Beste
. Was für eine reizende Idee: Vater ist der Beste. Jetzt genießen wir eine gute Bildung und suchen das Weite.«
Sie schwieg, bevor sie mich fragte: »Was würden Sie denn tun, wenn Sie begreifen müssten, dass jemand Ihr Leben ruinieren will? Und«, fügte sie hinzu, »verstehen Sie denn nicht? Aus unserer Sicht, von unserer sicheren Warte aus ist es nicht schwer zu erkennen, dass da ein Mensch ist, der versucht, ihr Leben zu zerstören. Aber das konnten sie nicht sehen …«
»Und wieso nicht?«, platzte ich heraus.
»Weil das keinen Sinn ergibt. Es ist nicht plausibel. Ich meine,
wieso
? Wieso sollte er das machen …«
»Na schön, wieso?«
»Noch nicht«, erwiderte sie. »Das müssen Sie selbst rausfinden. Ein paar Dinge sind jedoch klar: Obwohl er nicht halb so viel Bildung, halb so viel Mittel, halb so viel Prestige besaß, verfügte Michael O’Connell über die ganze Macht. Er war doppelt so gewieft wie sie, weil sie wie alle anderen waren, er aber nicht. Da waren sie nun, gingen ihm immer tiefer in das Netz seiner tiefen Bösartigkeit, ohne dass sie es erkannten. Jedenfalls nicht als das, was eswar. Was würden Sie machen? Ist das nicht die Frage? Schreckliche Dinge sind passiert, aber wo liegt die wahre Bedrohung?«
Ich antwortete nicht direkt. Stattdessen wiederholte ich meine Frage, auf die ich immer noch eine Antwort wollte. »Aber etwas änderte sich?«
»Ja, es kam ein Moment der Klarheit.«
»Wie das?«
Sie lächelte.
»Eine Glückssträhne in einer ansonsten immer unglücklicheren Situation.«
19
Strategiewechsel
Zuerst war Ashley vor Wut überwältigt.
Sekunden nachdem Michael O’Connell aus der Leitung gegangen war, schleuderte sie das Handy quer durch den Raum, so dass es mit einem lauten Knall an der Wand zerbrach.
Sie stand vorgebeugt da, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht hochrot und verzerrt, die Zähne zusammengepresst. Sie nahm das erstbeste Lehrbuch und warf es in dieselbe Richtung, so dass es auf den Putz traf und mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel. Sie stürmte ins Schlafzimmer, schnappte sich ein kleines Kissen vom Bett und überzog es mit einer Salve von Fausthieben wie ein Boxer in der letzten Runde, holte immer und immer wieder mit beiden Armen aus. Dann packte sie das Kissen, vergrub beide Hände darin und riss es auseinander. Kleine Stückchen aus der Synthetikfüllung flogen durch die Luft und setzten sich ihr auf Haare und
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