Das Reich der Elben 01
ihn.
Ruwen gegenüber schwieg Keandir über das, was er bemerkt hatte…
In seinem zehnten Jahr wollte Magolas unbedingt das Segeln und Reiten erlernen. Ersteres geschah mit einer Barkasse, die mit Mast und Segel ausgestattet wurde, sodass man mit ihr im Sommer die Küstengewässer befahren konnte. Kapitän Garanthor nahm sich beider Jungen an und brachte ihnen die Prinzipien des Segelns bei, denn natürlich wollte auch Andir diese Fähigkeit erlernen, als er merkte, dass sich sein Bruder für die Seefahrt zu interessieren begann.
Oft waren sie im Sommer den ganzen Tag auf dem Wasser und segelten die Küste entlang. In südliche Richtung fuhren sie bis zur Meerenge zwischen West-Elbiana und dem Kontinent, im Norden bis zur inzwischen erheblich gewachsenen Siedlung Westgard.
Dann verfiel Magolas auf die Idee, bis hinauf zu Naranduin, der Insel des Augenlosen Sehers, zu segeln, die von den elbischen Seeleuten noch immer gemieden wurde.
»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Andir.
»Unser Vater war auch dort, und alles, was uns irgendwie gefährlich werden könnte, hat er mit seinem Schwert Schicksalsbezwinger erschlagen«, erwiderte Magolas.
»Nicht die Ouroungour; sie sollen dort immer noch hausen. Und außerdem soll die gesamte Insel ein Ort finsterer Magie sein.«
»Ich dachte, du interessierst dich so für die Magie der alten
Schriften, Andir.«
»Das ist wahr.«
»Doch die Magie Naranduins soll um Äonen älter sein als alles, was unser Volk kennt.«
Sie stritten sich, ohne dass ein Außenstehender den Grund dafür mitbekam, denn sie benutzten ihre eigene geheime Sprache, von der sie sich gegenseitig geschworen hatten, niemand anderen darin einzuweihen, und zwar unter keinen Umständen. Schließlich einigten sie sich, den guten Wind zu nutzen und nur bis Westgard zu segeln. Dafür waren sie mehrere Tage unterwegs – eine Zeitspanne, die bei Elbeneltern noch keineswegs Anlass zur Sorge war, wenn ihre Kinder so lange von zu Hause wegblieben; für einen seegeborenen Elben waren ein paar Tage nichts weiter als ein Dutzend Atemzüge, für das Zeitempfinden vieler Athranor-Geborener glichen sie einem Herzschlag. Für ein paar Tage konnten Elbenkinder zudem ihr Wachstum einstellen und ihre Körperfunktionen einschränken, sodass sie in dieser Zeit ohne Nahrung auskamen. Also bestand auch in dieser Hinsicht kein Grund zur Sorge.
So fuhren Andir und Magolas mit ihrer Barkasse die Küste entlang bis Westgard, und dort machte Magolas erneut einen
Vorschlag: Sie sollten wenigstens weitersegeln, bis sie die Küste Naranduins erspähen könnten. »Einmal möchte ich jenen Ort sehen, an dem unser Vater das alte Schicksal zerschlug und die neue Welt geschaffen wurde.«
Nach einer längeren Diskussion gab Andir schließlich nach, machte aber zur Bedingung, dass man zunächst Brass Zerobastir, den Schamanen von Westgard, nach den Wetteraussichten befragte, und als Brass Zerobastir voraussagte, dass sich das Wetter und die Windrichtung in den nächsten Tagen nicht ändern würden, brachen sie auf. Andir verlangte jedoch, dass sie einen Abstand von der Küste dieses Eilands hielten, der gerade noch klare Sicht für Elbenaugen erlaubte. »Und wir werden nicht in das Nebelmeer vordringen«, fügte er noch hinzu.
»Bist du denn gar nicht neugierig, wie es dort ist?«, fragte
Magolas.
»Ich bin jedenfalls nicht neugierig darauf, mich dort zu verlieren und die Zeit zu vergessen«, erklärte Andir.
Magolas zuckte daraufhin mit den Schultern. »Ein paar Jahrhunderte im zeitlosen Nebelmeer und danach zurückkehren und Einzug in ein bereits prächtig erblühtes Elbenreich Elbiana halten, das wär’s doch. Sobald wir groß sind, wird uns unser Vater sicherlich mit allerlei Pflichten am Aufbau des Reiches beteiligen wollen, doch dieser Anstrengung könnten wir auf diese Weise entkommen.«
»Es könnte sein, dass wir nie wieder aus dem Nebelmeer herausfinden, Magolas.«
Magolas seufzte. »Du bist so verflucht ängstlich! Kaum zu glauben, dass wir von denselben Eltern abstammen.«
»Nein, ich bin nur vorsichtig. Das ist etwas anderes.«
Sie segelten also auf Naranduin zu, bis sie in der Ferne dessen Küste auftauchen sahen und schließlich das Bergmassiv
mit dem Affenkopf. Im Nordwesten war eine graue Nebelwand zu sehen.
Andirs Sinne waren längst geschärft genug, um die Nähe magischer Kräfte deutlich zu spüren. Das Unbehagen in ihm wuchs, je näher sie Naranduin kamen.
Bei Magolas jedoch war von diesem Unbehagen nichts zu spüren. Er saß
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