Das Reich der Elben 01
war.
Branagorn versuchte zu erspüren, ob der König noch lebte. Aber es gelang ihm nicht. Eine geistige Mauer schien Keandir zu umgeben, die nichts zu ihm durchdringen ließ. Oder war es der Augenlose, der ihn abschirmte?
Branagorn betrachtete dessen entstellt wirkendes Gesicht voller Abscheu. Was war das für ein Spiel, das diese Schattenkreatur mit ihm trieb?
Da lenkte Branagorn eine Bewegung im Wasser ab. Es schien plötzlich von wurmartigem Getier zu wimmeln. Riesige Aale schlängelten sich darin. Sie balgten sich um eine Beute, offenbar den Körper eines Elben, der regungslos im Wasser lag.
Branagorn zögerte keinen Augenblick und watete bis zu den Knien in den See. Auch wenn der Ekel vor diesen Kreaturen beinahe übermächtig war, so konnte ihn doch nichts davon abhalten, seinem König beizustehen.
Branagorn ließ sein Schwert durch das Wasser tanzen. Mehrere der Riesenaale schnitt die Klinge glatt durch. Die anderen verschwanden, stoben in Panik davon. Das gierige Gewürm tauchte davon, und Branagorn fasste den König bei der Schulter. Er steckte das Schwert weg und drehte ihn herum. Der Gestank des Wassers war unerträglich.
Keandirs Gesicht und Kleidung waren vollkommen beschmiert mit diesem öligen Nass – damit und mit einem ebenfalls dunklen, sehr viel zähflüssigeren Saft.
Branagorn zog Keandir an Land.
»Mein König, so atmet doch!«, rief er verzweifelt. Das
Gesicht Keandirs wirkte bleich wie der Tod.
Branagorn verfügte nicht über die Kenntnisse der elbischen Heilkundigen, aber den einen oder anderen Lebenszauber beherrschte er doch. Er hatte ihn sich beigebracht, für den Fall, dass er ihn einmal brauchte. Etwa wenn er im Kampf verletzt
wurde oder einen Unfall erlitt und abgeschnitten von den anderen Elben war.
Branagorn murmelte eine der Formeln, die er gelernt hatte, und hoffte, dass sie auch wirkten. Er hatte sie von einem elbischen Schamanen, der ihm erklärt hatte, dass immer mehr Elben darauf verzichteten, diese Art von Heilmagie anzuwenden.
»Auch das ist Zeugnis von jenem Lebensüberdruss, dem unser Volk anheimfällt«, hatte der Schamane ihm seinerzeit gesagt.
Diese Worte fielen ihm absurderweise ausgerechnet in dieser
Situation wieder ein.
»Ihr dürft nicht von uns gehen, König Keandir!«, rief er. »Ihr Götter, was immer Ihr auch verlangen mögt, ich werde Euren Wunsch erfüllen, wenn Ihr dafür König Keandir das Leben schenkt!«
Das hämische Kichern des Sehers erklang hinter ihm. »Ist es nicht so, dass dein Volk sogar die Namen seiner Götter vergessen hat? Wie kannst du da erwarten, dass sie etwas für dich tun, wenn ihr ihnen schon jahrhundertelang nichts mehr geopfert habt und ihnen nicht einmal den Respekt der Erinnerung entgegenbringt? Vergiss diese Götter, sie haben keine Macht und können dir nicht helfen.«
»Dann hilf du mir, Seher!«
Aber der Augenlose schüttelte den Kopf. »Das kann nur Keandir selbst. Er ist es, der mit seinem Schicksal gerungen hat wie kaum ein anderer zuvor. Es wird sich herausstellen, ob die Verwundungen, die er davongetragen hat, zu schwer sind oder ob er…«
Der Augenlose verstummte und fasste beide Zauberstäbe mit der linken Hand, um die rechte in Richtung des Schicksalssees auszustrecken. Ein Schwert schoss aus dem Dunkel des Wassers. Branagorn erkannte sofort, dass es sich um den
legendären Trolltöter seines Königs handelte. Die Klinge war in zwei Teile geborsten, die sich jedoch wieder zusammenfügten, noch während sie durch die Luft wirbelten. Als das Schwert mit dem Griff in der Hand des Augenlosen landete, waren die Einzelteile wieder zu einem Ganzen verschmolzen.
In diesem Moment öffnete Keandir die Augen. Die Lippen waren farblos geworden. Ein Zittern durchlief seinen geschundenen Körper.
»Wie mir scheinen will, hat Euch der Furchtbringer einen kleinen Schrecken eingejagt«, sagte der Augenlose und verzog zynisch den Mund. »Zumindest scheint Ihr eine Ahnung von der Endlichkeit des Seins und der Kälte des Todes bekommen zu haben. Seid froh darum. Ich habe so etwas schon seit mehr als einem Zeitalter nicht mehr empfunden – und andere in ihrer Todesangst zu beobachten ist kein Ersatz für diese Zeichen der Lebendigkeit.«
Ruckartig fuhr Keandirs Oberkörper hoch. Er schaute sich um und schien sich erst orientieren zu müssen. Dann blickte er zum dunklen Schicksalssee.
»War das alles nur ein Traum?«, fragte er.
Der Augenlose warf ihm das Schwert zu. Keandir fing es mit einer Hand geschickt auf. An jener Stelle, an der sie
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