Das Rosie-Projekt
Englisch. »Hummer gut für dich jeden Dienstag.« Er lachte und winkte den anderen Kunden zu. Er machte sich über mich lustig. Rosie hatte bei ihrer Drohung »Leg dich nicht mit mir an« einen bestimmten Gesichtsausdruck gehabt. Diesen Gesichtsausdruck machte ich nun nach. Er schien auch ohne Worte zu wirken.
»Ich mache nur Spaß«, sagte der Verkäufer. »Schwertfisch ist gut. Austern. Du essen Austern?«
Natürlich aß ich Austern, auch wenn ich sie noch nie zu Hause zubereitet hatte. Ich kaufte sie ungeöffnet, da gute Restaurants ihre Austern immer als frisch geöffnet anpriesen.
Als ich zu Hause ankam, hatte ich eine Auswahl an Lebensmitteln in der Tasche, für die ich keine Rezepte besaß. Die Austern erwiesen sich als Herausforderung. Mit dem Messer konnte ich sie nicht öffnen, ohne eine Verletzung der Hand durch Ausrutschen zu riskieren. Ich hätte im Internet nach einer Technik zum Öffnen suchen können, aber das hätte einige Zeit in Anspruch genommen. Genau deshalb hatte ich ja einen Plan mit bekannten Abläufen erstellt: um Zeit zu sparen. Das Fleisch eines Hummers konnte ich mit geschlossenen Augen auslösen, während mein Gehirn an einem Genetikproblem arbeitete. Was war an Standardisierung falsch? Auch eine zweite Auster konnte ich nicht mit dem Messer öffnen. Ich wurde ungeduldig und war schon drauf und dran, das ganze Dutzend in den Müll zu werfen, als mir eine Idee kam.
Ich legte eine Auster in die Mikrowelle und heizte sie ein paar Sekunden lang auf. Sie ließ sich problemlos öffnen, war leicht warm, schmeckte aber köstlich. Ich versuchte es mit einer zweiten und fügte diesmal noch einen Spritzer Zitronensaft und etwas frisch gemahlenen Pfeffer hinzu. Sensationell! Ich spürte, dass sich mir eine ganz neue Welt öffnete. Ich hoffte, die Austern waren nachhaltig produziert, denn ich wollte Rosie meine neuen Fähigkeiten vorführen.
31
Da ich mit meiner Selbstverbesserung beschäftigt war, blieb mir wenig Zeit, mich mit der Entlassungsdrohung der Dekanin auseinanderzusetzen und darauf zu reagieren. Ich hatte beschlossen, Genes Angebot, ein Alibi zu konstruieren, nicht anzunehmen – nun, da mir bewusst war, dass ich Regeln gebrochen hatte, würde ich meine persönliche Integrität verletzen, wenn ich den Fehler durch Vertuschungsversuche noch vergrößerte.
Es gelang mir, die Gedanken an meine berufliche Zukunft zu verdrängen, aber ich konnte nicht verhindern, dass mir der abschließende Kommentar der Dekanin zu Kevin Yu und meiner Plagiatsbeschwerde immer wieder durch den Kopf ging. Nach einigem Nachdenken zog ich den Schluss, dass die Dekanin mir keinen unethischen Handel vorgeschlagen hatte nach dem Motto: »Ziehen Sie die Beschwerde zurück und Sie können Ihren Job behalten.« Was sie gesagt hatte, beunruhigte mich deshalb, weil ich im Zuge des Vaterprojekts selbst gegen die Regeln verstoßen hatte. Zur Moral seines eigenen Verhaltens befragt, hatte Gene mir einmal einen religiösen Witz erzählt.
Jesus spricht zu einer aufgebrachten Menge, die eine Prostituierte steinigen will: »Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.« Da fliegt ein Stein durch die Luft und trifft die Frau. Jesus dreht sich um und sagt: »Manchmal gehst du mir ganz schön auf die Nerven, Mutter.«
Ich konnte mich nicht länger mit der Jungfrau Maria vergleichen. Ich hatte der Sünde nachgegeben und war verdorben worden. Ich war wie jeder andere auch. Meine Berechtigung zum Steinewerfen war beträchtlich eingeschränkt.
Ich bestellte Kevin zu einer Besprechung in mein Büro. Er stammte vom chinesischen Festland und war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt (geschätzter BMI neunzehn). Seine Haltung und seinen Gesichtsausdruck interpretierte ich als »nervös«.
Ich hielt ihm den Aufsatz hin, der teilweise oder in Gänze von seinem Tutor geschrieben worden war, und stellte die zwingende Frage, warum er ihn nicht selbst geschrieben habe.
Er senkte den Blick – was ich eher als kulturell bedingtes Zeichen von Respekt betrachtete denn als Ausweichmanöver –, doch statt meine Frage zu beantworten, begann er, die Konsequenzen seines möglichen Universitätsverweises zu erläutern. Er habe Frau und Kind in China und ihnen noch nichts von seinem Problem erzählt. Er hoffe, eines Tages nach Australien emigrieren oder, falls nicht, zumindest als Genetiker arbeiten zu können. Sein unkluges Verhalten bedeute das Ende seiner Träume und der seiner Frau, die nun schon fast vier Jahre ohne ihn hatte
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