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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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eine entscheidende Bedeutung zukam. Später wollten Studenten oder Frauen, wie er es formulierte, vielleicht Zugang zu der kleinen Bibliothek haben, in der die Bücher nach seinem Tod sicher verwahrt wären.
    Dad bestand darauf, dass ich seine große Schwester kennenlernte, eine Dichterin und Universitätsdozentin. Bei unserer Ankunft lag sie im Bett, denn sie litt seit zehn Jahren an Arthritis. »Ich habe dich erwartet«, sagte sie und kniff mir in die Wange. »Du musst etwas sehen, auch wenn das nicht ganz einfach für mich ist.«
    Wir halfen ihr aus dem Bett und begleiteten sie zur Universität, die sie mir unbedingt zeigen wollte, obwohl sie wegen >Unruhen< geschlossen war. Gemeinsam mit Dad und mir schlurfte sie, auf ihren Rollator gestützt, durch die Flure und offenen Räume, und wir betrachteten die Reihen der Holzbänke und die schmucklosen, verfallenden Wände.
    Sie lehrte englische Literatur, Shakespeare, Austen, die Romantiker. Allerdings war die Universität kürzlich von radikalen Islamisten angegriffen worden, und danach war niemand zu den Vorlesungen und Seminaren zurückgekehrt. Die Literatur, die sie unterrichtete, galt als »haram«, verboten. Unterdessen richtete Präsident Zia sogenannte »Madrasses«, also »Bomben-Schulen«, ein. Dorthin schickten viele arme Familien ihre Kinder, weil diese nur dort Bildung und Essen bekamen.
    Als ich fragte, was es für meine Tante bedeute, Menschen, die nie in England gewesen seien, an einem solchen Ort die englische Literatur nahezubringen, sagte sie: »Die Briten sind weg. Der Kolonialismus hat den radikalen Islam gebändigt, und die Briten haben uns immerhin ihre Literatur und ihre Sprache hinterlassen. Eine Sprache gehört niemandem ganz allein. Jeder darf sie benutzen, genau wie die Luft, die man atmet. Doch in politischer Hinsicht ist ein Loch zurückgeblieben, das nun von anderen mit Steinen gefüllt wird. Die Amerikaner - die CIA - fördern den Aufschwung des Islamismus, damit die Kommunisten im Mittleren Osten nicht Fuß fassen. Das ist etwas, was wir Englischdozenten als Ironie der Geschichte bezeichnen.« Sie fuhr fort:
    »Doch die größten Sorgen mache ich mir um die Frauen, die jungen Frauen, die hier aufwachsen. Keine Ideologie auf der Welt ist frauenfeindlicher als diese. Diese Fanatiker werden alle Fortschritte rückgängig machen, die während der sechziger und siebziger Jahre erreicht worden sind.«
    Sie wollte an die Universität zurückkehren, sobald es wieder möglich war, bezweifelte aber, dass dies noch zu ihren Lebzeiten geschehen würde. »Ein Student hat mir gesagt: >Wir werden zehntausend Leute opfern, um die Institutionen dieses Landes zu zerstören und eine Revolution anzuzetteln. Danach könnten wir Afghanistan angreifen und noch weiter vordringen ... Es wird nur noch Gläubige oder Tote geben. Der Westen kann vielleicht den Kommunismus besiegen, nicht aber den Islam - denn die Menschen glauben an den Islam<«.
    Derweil war meine Tante zufrieden, in ihrem Zimmer zu bleiben und Gedichte zu schreiben. Sie hatte auf eigene Kosten fünf Gedichtbände veröffentlicht, zweisprachig, in Urdu und Englisch. Sie vergötterte Derek Walcott, der für sie eine Lichtgestalt war. »Sein Vater war bestimmt ein Angestellter der Kolonialverwaltung, wie so viele unserer Gebildeten.« Von ihm hatte sie gelernt, dass sie von ihrer Warte aus schreiben konnte - »kulturübergreifend«, wie sie es nannte -, und zwar sinnvoll. In ihrem Haus trafen sich andere lokale Dichter, die ihre Werke vortrugen und diskutierten. Sie wären weder die ersten noch die letzten Autoren, die im Untergrund arbeiten mussten.
    »Wie ich die Vögel beneide«, sagte sie. »Sie können singen. Niemand verbietet ihnen den Schnabel oder wirft sie in das Gefängnis. Sie leben hier als Einzige in Freiheit.«
    Sprache; Dichtung; Rede; Freiheit. Das Land war gebeutelt, aber manche der Menschen, zur Ernsthaftigkeit gezwungen, waren großartig. Dad wusste bestimmt, welche Wirkung dies auf mich haben würde.
    Unsere Leben waren immer durch eine breite Kluft getrennt: Wenn Dad in England war, besuchte er weder unsere Schule noch unser Haus. So etwas wie alltägliche Zuneigung hatte es nie gegeben. Doch auf den Fahrten durch Karatschi fragte er mich, was ich denn nun in Wahrheit mache, als wollte er das Geheimnis erfahren, das ich den hartnäckigen Fragestellern auf den Dinnerpartys verschwiegen hatte.
    Darauf konnte ich nur wenig antworten. Ich sagte, ich wolle eine Dissertation über

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