Das Sakrament
Hand des Jünglings sie losließ. Einen Augenblick lang fühlte sie sich frei, dann begriff sie mit niederschmetternder Scham, daß dieser Jüngling nicht nach ihr gegriffen hatte, damit sie ihm half, sondern um sie zu retten, um sie aus dem Vergessen zu retten, in das ihre Seele nun stürzte. Verzweifelt wandte sie sich um, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Als Carla sich neben dem Jungen niederkniete, sah sie, daß es zu spät war. Das letzte flackernde Licht war aus seinen braunen Augen verschwunden. Ohne Freunde, namenlos und verlassen war er gestorben, und sogar der Abschiedsblick einer vorübergehenden Fremden war ihm verwehrt worden. War so auch Tannhäuser gestorben? Und Orlandu, ihr Sohn? Sie konnte es nicht glauben. Sie drückte die Augen des Toten zu, hielt sein bleiches Antlitz und schluchzte. Sie fühlte sich nicht einmal würdig zu beten.
Hände ergriffen von hinten ihre Schulter, zogen sie auf die Beine und bargen ihr schluchzendes Gesicht an einer in eine schwarze Kutte gekleideten Schulter. Arme umgaben sie, und sie umklammerte eine mit einem Kreuz geschmückte Brust und weinte wie ein selbstvergessenes kleines Kind. Sie weinte wie noch nie in ihrem Leben – um den namenlosen Jüngling zu ihren Füßen und alle, die ein ähnliches Schicksal erlitten hatten. Um Tannhäuser und Orlandu, ob sie lebten oder nicht. Um ihren Vater, dem sie das Herz gebrochen und dessen Ehre sie befleckt hatte. Um die Liebe, die sie gekannt und verloren hatte. Um die Liebe, die sie niemals gelebt hatte.
Carla holte tief Luft und schaute auf. Es war Lazaro, der sie hielt, selbst todmüde, mit einer bodenlosen Trauer in den Augen, und doch brachte er ein grenzenlos gütiges Lächeln zustande.
»Diese Treppe hinauf«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf eine Gasse, »da findet Ihr ein kleines Zimmer mit einem Feldbett. Es ist schmal und hart, aber ich verspreche Euch, Ihr werdet Euch fühlen, als würdet Ihr auf Wolken schweben. Geht gleich hin und ruht Euch aus.«
Carla trat einen Schritt zurück und wischte sich über das Gesicht. Sie starrte den toten jungen Mann an.
»Ich habe ihn im Stich gelassen«, sagte sie.
Lazaro drehte ihr Gesicht wieder zu sich. »Petrus hat Unseren Herrn dreimal verleugnet und im Stich gelassen. Das hat Seiner Heiligkeit keinen Abbruch getan.« Er versuchte ein weiteres Lächeln, dann wurde sein Gesicht sehr ernst. »Wenn wir unseren Geist zu sehr erschöpfen, sind wir für die, denen wir dienen, nur noch von geringem Nutzen. Und wenn wir nicht dienen, hat unser Leben keinen Sinn. Das Feldbett gehört mir, und ich benutze es oft, glaubt mir. Tut, was ich Euch sage. Ruht Euch aus. Und vergeßt nicht, daß Gott Euch liebt.« Er deutete auf die Kranken, die überall lagen. »Es gibt noch mehr als genug zu tun, wenn Ihr wiederkommt.«
Das Feldbett war wirklich schmal und hart und fühlte sich dennoch weich wie eine Wolke an. Carla lag eine Stunde lang dort, und obwohl sie die Augen schloß, war sie zu müde, um schlafen zu können. Gedanken und halbe Träume schossen ihr durch den Kopf. Sie dachte an Tannhäuser, an seine vernarbte muskulöse Gestalt, an seinen offenen Blick, der auf ihr ruhte, an eine Welt, die dem Wahnsinn verfallen war. Sie stellte sich vor, sie seien verheiratet, es sei Frieden, und sie hätten sich nur mit den kleinen Gefahren des Lebens zu beschäftigen. Sie hörte seine Stimme, die ihr versicherte, daß alles vorübergehen würde. Und vielleicht war sie doch eingeschlafen, denn nun stahl er sich nackt in ihre kleine Zelle. Sie hatte ihn gesehen, hatte ihn heimlich beobachtet, wie er in seiner Wanne lag, und die Erinnerung daran schürte das Feuer ihrer Phantasie. Er zog sie vom Feldbett hoch und streifte ihr das blutige Kleid ab. Ungebeten kniete sie vor ihm nieder. Ihre Finger klammerten sich an seine festen, hell schimmernden Schenkel. Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder und stöhnte. Sie wand sich in sehnsüchtigen Schmerzen, die so stark waren, daß sie aufwachte und der Traum ihr entfloh. Sie war allein in der Dunkelheit. Sofort stürzten andere Bilder wieder auf sie ein. Diese Träume von Krieg und erotischen Phantasien verstörten und verwunderten sie, und sie schrie auf und schlang die Arme um ihre Brust.
So lag Carla eine ganze Weile. Dann versiegten ihr die Tränen,und sie stellte fest, daß sie erfrischt war. Obwohl ihr Verstand etwas anderes sagte, weigerte sie sich genau wie Bors, zu glauben, daß Tannhäuser tot war, und wenn er lebte,
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