Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
den Kopf.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, murmelte er. Was überwachten die Systeme? Was konnten sie noch überwachen?
Automatisch gesteuert blendete eine Lagezeichnung auf dem Bildschirm ein. Sie zeigte ihm den Weg von seinem Standort zur Kommunikationszentrale der Diözese.
Verwundert erkannte Goetz, daß sich das Nachrichtenzentrum des Bistums innerhalb der Kathedrale befand. Es lag unmittelbar unter dem Altar im Chorraum an der Ostseite des Mittelschiffs.
Goetz drehte sich um. Er lief an den Regalen vorbei. Ehe er den Raum mit den mumienhaften Priestern betrat, zögerte er eine halbe Sekunde. Ohne sie anzusehen eilte er zur Treppe.
Der Innenraum der Kathedrale wurde von hellem, buntem Licht durchflutet. Draußen mußte die Sonne scheinen. Er wußte nicht, was aus dem Gabelstapler geworden war. Auf jeden Fall hatte das Wasser auf dem Vorplatz die oberen Stufen vor dem Portal nicht überschwemmt.
Er dachte plötzlich daran, was wohl geschehen wäre, wenn die Wassermassen die letzte Stufe erreicht hätten. Ohne vorher darüber nachzudenken, hatte er eine Nacht in der ungeschützten, nicht verschlossenen und viel tiefer gelegenen Vorratskammer verbracht ...
Er schüttelte sich. Er mußte langsam lernen, besser aufzupassen! Diesmal hatte er Glück gehabt, aber das konnte sich von einer Sekunde auf die andere ändern ...
Sein Herz klopfte, als er die Stufen zum Altar hinaufstieg. Als er die Putten, Engel und goldüberzogenen Figuren im Allerheiligsten sah, fielen ihm plötzlich wieder die beiden kleinen Wesen ein, die er am Vorabend vom Turm aus gesehen hatte.
Menschen!
Warum hatte er die ganze Zeit nicht mehr an sie gedacht? Weigerte sich irgend etwas in ihm, die flüchtige Beobachtung zu bestätigen? Oder wollte er nicht, daß es noch andere Überlebende gab?
Er blieb in einem gelbroten Sonnenstrahl stehen. Die Wärme tat ihm gut, obwohl sie durch die unzerstörten, bleiverglasten Kirchenfenster stark gefiltert wurde.
Was war mit ihm los?
Einerseits hoffte er von ganzem Herzen, andere Menschen zu finden, aber andererseits hatte er Angst davor.
Goetz wagte nicht, den einmal angefangenen Gedanken weiterzuführen. Durch seine ganze Erziehung war er auf ein Außenseiterverhalten vorbereitet worden. Sie hatten ihm gesagt, daß er der Nachkomme einer Eliteschicht war, der nur noch wenig mit der Masse gemein hatte. Unter dieser Voraussetzung hatte er seine Rolle als Bewahrer von Werten und Traditionen akzeptiert, die nicht mehr in die Zeit paßten.
Er kam sich plötzlich wie ein Relikt vor, wie ein Fossil, das überlebt hatte, weil es nie gezwungen worden war, sich anzupassen. Doch jetzt hatten sich die Voraussetzungen geändert. Es gab keine Menschen mehr, vor denen er sich abkapseln und zurückziehen mußte.
Er war der Überlebende!
Er durfte nicht mehr schweigen, leiden und der Vergangenheit nachtrauern! Das Schicksal hatte ihm einen Platz zugewiesen, an dem er erstmalig wirklich gefordert wurde!
Jetzt mußte er beweisen, daß er Verantwortungen übernehmen konnte - für sich selbst, für das Erbe der Menschheit und für die Zukunft, von der er weniger wußte als von der Vergangenheit ...
Als ihm das klar wurde, ging ein harter, tiefer Ruck durch ihn. Die Wehleidigkeit der letzten Tage fiel von ihm ab wie eine leere Hülle. Eine lange ungenutzte innere Energie strömte durch seine Adern. Filter und Masken, der Ballast fremder Meinungen und die Zwangsjacke eines lange trainierten Normverhaltens lösten sich von ihm wie tote Borke von einem Baumstamm, der von neuer Kraft durchströmt wird.
Er beugte sich nach vorn, ließ die Arme hängen und riß sie unvermittelt wieder hoch. Sein Urschrei vor dem heiligen Altar hallte wie ein mächtiger Kampfruf durch das hochaufragende Gewölbe der Kathedrale.
10. KAPITEL
Ein Schwarm von Mücken tanzte durch die bunten Lichtbalken. Für Goetz waren sie wie erste, neue Lebensspuren. Diese winzigen Mücken mußten nach der Katastrophennacht ausgeschlüpft sein!
Er lächelte glücklich, ehe er um den Altar herumging. Mit beiden Händen stützte er sich an den Seiten eines schmalen Niedergangs ab. Die Stufen waren schmal und ausgetreten.
Süßlicher Weihrauchgeruch schlug ihm entgegen, als er die erste der eisenbeschlagenen Türen öffnete. Hinter der zweiten Tür kam der Geruch des Todes dazu.
Erst nach dem dritten Sicherheitsschott rauschte kühle, mehrfach gefilterte Luft in den Kellerraum.
Goetz blinzelte in die sterile Helligkeit des Nachrichtenzentrums.
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