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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Wolf
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murrte Thomasîn. »Wieso gibt es überhaupt ein V? Es ist doch derselbe Laut wie das F. Warum muss das so schwierig sein?«
    »Hör auf, dich zu beklagen«, sagte Isabelle lächelnd. »Du wolltest, dass ich dir Lesen und Schreiben beibringe. Also tu gefälligst, was ich dir sage.«
    »Weißt du, was ich glaube? Das Pfaffenpack hat die Schrift absichtlich so umständlich gemacht – damit das einfache Volk sie nicht versteht und sie in ihre Briefe und Dokumente hineinschreiben können, was sie wollen. Deshalb unterhalten sie sich auch die ganze Zeit auf Latein. Sie wollen, dass Männer wie ich sich dumm fühlen.«
    »Deshalb lernst du es ja. Damit du dich nicht mehr dumm fühlen musst.«
    Thomasîn schimpfte noch eine ganze Weile auf die Kirche, doch währenddessen setzte er unverdrossen seine Schreibübung fort. Sie übten jeden Tag mindestens eine Stunde, wenn die Arbeit auf dem Gehöft es zuließ. Stets murrte Thomasîn, sowie er den Federkiel in der Hand hielt, und etwa einmal in der Woche drohte er aufzugeben und das Schreibzeug ins Feuer zu werfen. Nichtsdestotrotz war er ein aufmerksamer Schüler und lernte rasch für einen erwachsenen Mann, der sich noch nie zuvor an der Kunst des Schreibens versucht hatte. Isabelle war stolz auf ihn. In einem halben Jahr, schätzte sie, würde er imstande sein, Briefe zu schreiben und Verträge zu lesen, sofern sie nicht in Latein abgefasst waren. Dann konnte er endlich mit den Kaufleuten in Speyer auf Augenhöhe verhandeln, und es würde ihnen nicht mehr so leichtfallen, ihn zu betrügen.
    Sie ließ ihn einige der Wörter schreiben, die er bereits kannte, und brachte ihm drei neue bei. Während er ihre Anweisungen umsetzte, blickte sie aus dem Fensterschlitz der Stube und beobachtete Rémy, der draußen mit Alice, der Katze, spielte. Seit seinem dritten Geburtstag im April wuchs der Junge unglaublich schnell. Obwohl er bei seiner Geburt recht klein und zierlich gewesen war, hatte er die gleichaltrigen Kinder aus dem Dorf längst eingeholt.
    Starke Windböen bogen Bäume und Büsche, und über der Rheinebene türmten sich schwarze Wolken auf. Ein Unwetter zog auf, bereits das dritte diesen Monat – der goldene Herbst war endgültig vorbei. Isabelle beschloss, Rémy hereinzuholen. Leider war er damit nicht einverstanden und murrte, als sie sein Spiel unterbrach, seine Hand ergriff und ihn zum Haus zog. Sie wusste, dass ihre Sorge um den Jungen vermutlich übertrieben war, immerhin war das Unwetter noch Stunden vom Gehöft entfernt. Doch sie konnte nicht aus ihrer Haut. Schuld daran war der vermaledeite Traum, aus dem sie heute Nacht aufgeschreckt war.
    Inzwischen war er größtenteils verblasst, sodass sie sich kaum noch daran erinnern konnte. Sie wusste nur noch, dass es ein wirklich scheußlicher Nachtmahr gewesen war. Irgendetwas von Michel und seinem Bruder Jean, schwarzen Gestalten in einer finsteren Gasse und einem Messer voller Blut. Isabelle sagte sich immerzu, dass man Träumen nicht trauen durfte. Meist handelte es sich um tückisches Blendwerk, hinter dem Dämonen oder bösartige Alben steckten, die sterbliche Seelen in die Irre führen wollten. Doch dieser Traum war gewiss kein Trugbild oder Hirngespinst. Er war so wirklich gewesen, so lebensecht. Was, wenn er von zukünftigen Ereignissen kündete, wie Nachtmahre dies manchmal taten? Wenn er sie warnen wollte?
    »Du kannst in der Stube spielen«, sagte sie ihrem Sohn. »Komm, wir holen deine Spielsachen aus der Truhe.«
    »Alice soll auch ins Haus kommen«, sagte Rémy. »Sie wird sonst nass.«
    »Mach dir um Alice keine Sorgen. Eine Katze findet immer ein Versteck. Bestimmt schlüpft sie in den Schuppen, wenn es zu regnen anfängt.«
    Rémy nahm seinen geliebten Holzritter und die anderen Figuren, die Thomasîn für ihn geschnitzt hatte, und setzte sich an den Kamin. Bald darauf war sein Ärger verschwunden. Wie alle Kinder besaß er die Gabe, ganz in seinem Spiel zu versinken, bis er die Welt um sich herum vergaß.
    »Wir sollten das Vieh füttern, bevor der Sturm losbricht«, sagte Thomasîn.
    Er räumte das Schreibzeug weg, und sie begaben sich in den Stall.
    Die schlimme Ahnung ließ Isabelle für den Rest des Tages nicht los, und als das Unwetter über den Hof fegte, verstärkte sie sich noch. Es war wie im Frühjahr, als Varennes erst vom schlimmsten Hochwasser seit Jahren und kurz darauf von einer verheerenden Seuche heimgesucht worden war. Damals hatte sie auch düstere Träume gehabt, obwohl sie erst

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