Das Schiff - Roman
mein Zwilling die Frage. »Alles ist widersprüchlich, nichts passt mehr zusammen, stimmt’s?«
Stimmt. So viel ist inzwischen klar.
»Also, rede mit mir!«, fährt er fort und sieht mir in die Augen. »Bilde ein Doppel mit mir. Sag mir, was ich von all dem halten soll.«
Hastig gehe ich einen Teil meiner Spekulationen und bruchstückhaften Hypothesen durch. Mein Zwillingsbruder und ich sind so sehr in dieses kleine Spiel vertieft, dass wir lange Zeit gar nicht merken, wie still es in der Gruppe geworden ist, weil die anderen uns gespannt beobachten.
Alle bis auf Nell, die sich, den Blick nach oben gerichtet, erneut den Kontrollinstrumenten widmet. Im Geiste wünschen wir ihr viel Glück.
»Man hat uns nur deshalb falsche Erinnerungen eingepflanzt«, überlege ich, »damit wir bis zu unserer Ankunft am Zielplaneten vollständige Persönlichkeiten ausbilden. Vielleicht sind wir tatsächlich Lehrer, aber was lehren wir? Wir müssten dann ja auch über Lehrstoff verfügen, den wir vermitteln können. Möglicherweise vermitteln wir Kulturgeschichte, Vorschriften und Regeln, den höflichen Umgang miteinander … Geben Anleitungen zur Teamarbeit.«
»Genau«, erwidert mein anderes Ich. »Ähnliches hab ich mir auch schon gedacht.«
»Selbstverständlich arbeiten wir effizienter, wenn wir das, was wir vermitteln, auch selbst für richtig halten«, fahre ich fort. »Und wenn wir dabei auf unsere eigenen Lebenserfahrungen zurückgreifen können. Wenn wir wissen, welche Konsequenzen es haben kann, sich nicht an bestimmte Regeln zu halten. Das wiederum
setzt eine Lebensgeschichte voraus, also gibt man uns eine. Doch zugleich muss man uns auch auf Situationen in der realen Welt vorbereiten.«
Mein Zwilling nickt zustimmend, streckt eine Hand so hoch, als wollte er ein Orchester dirigieren, und greift den Gedanken auf. »Richtig. Nur hat es gar keine reale Situation gegeben, in der wir uns hätten bewähren können. Irgendetwas oder irgendjemand hat uns ins Leben gerufen, sich jedoch aus dem Staub gemacht, ehe die Bühne, unsere Bühne, überhaupt für unseren Auftritt vorbereitet war. Soll heißen: Ehe es überhaupt Siedler gab, die wir hätten unterrichten können. Es kam gar nicht zu einer Situation, in der unser Einsatz gefordert war.«
Nach und nach komme ich in Fahrt. Zwei Köpfe können besser denken als einer. Außerdem hat man unsere Gehirne möglicherweise mit unterschiedlichen Informationen – mit verschiedenen Teilen dieses Puzzles – gefüttert.
»Einige Seiten des Katalogs haben wir ja gesehen«, fahre ich fort. »Jahrhunderte angestrengter Arbeit, jede Menge Geld und Programmierung sind in diesen Genpool geflossen.« Über meine Schulter blicke ich kurz zu Tomchin und Kim hinüber. »Denn die zur Besiedlung geeigneten Planeten bieten ja nicht unbedingt die gleichen Lebensbedingungen wie die Erde. Also hat man von vornherein unterschiedliche Typen von Siedlern eingeplant, die so programmiert sind, dass sie sich den jeweiligen Umgebungen anpassen können. Wenn man nicht voll entwickelte Menschen mitschleppen
muss, sondern nur Embryonen – oder, noch besser, nur Instruktionen, die man den Bio-Generatoren eingeben kann …«
Bio-Generatoren. Dass mir dieses Wort eingefallen ist, kommt auch für mich selbst überraschend.
»Hast du den Begriff gerade erfunden?«, fragt mein Zwilling.
»Kann sein. Jedenfalls sind diese Bio-Generatoren mit einer Datenbank verbunden, in der alle vorstellbaren Lebensformen gespeichert sind. Dann wird irdisches Leben so umgewandelt, dass es in den entferntesten Regionen der Evolution bestehen kann, sprich: Planeten mitsamt den dort vorhandenen Lebensformen in Besitz nehmen kann …« Unwillkürlich läuft mir ein Schauer über den Rücken.
Die anderen, einschließlich Nell, verhalten sich wie das Publikum in einem Jazz-Club, das eine heiße Jam Session miterlebt.
»Die Unbekannten, die das Schiff mit dem Genpool ausgestattet haben, wollten also nicht, dass wir irgendetwas über unsere wahre Natur und unseren Ursprung erfahren?«, wirft Nell ein. »Darauf willst du doch hinaus, stimmt’s?«
»Für unseren Einsatz war es ja auch gar nicht nötig, uns Aufschluss über unseren Ursprung zu geben. Im Gegenteil, das hätte uns womöglich nur von der Arbeit abgelenkt«, erwidert mein Zwilling.
Selbst Tomchin, der unser Gespräch aufmerksam verfolgt, scheint einiges davon zu begreifen. Tsinoy ist mir inzwischen so auf die Pelle gerückt, dass ich merke, wie
sich ihre Wirbel in
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